Angst vor dem Irrationalen

von Simone Kaempf

Heidelberg, 24. April 2018. "Wir reden jetzt mal darüber, warum man solche Wörter nicht gebrauchen sollte." Die Lehrstunde gilt dem Heidelberger Publikum. Der Schauspieler Daniel Hoevels steht vorne, bereit für eine kleine Lektion in Sachen Beschimpfung. "Missgeburt", "Hurensohn", geht natürlich nicht. "Opfer?" Schon eher. Denn wie kann Opfer ein Schimpfwort sein, wenn das Gegenteil ein Täter ist, argumentiert der Pauker der sympathischeren Art. Einer, auf den Schüler hören, der für den Frust pubertärer Jungs offene Ohren hat, in den sich die Mädchen verlieben und den sich der Schul-Direktor als seinen Nachfolger wünscht. "Also ich würde lieber Opfer sein", wirbt Hoevels betont pädagogisch. Dann springt er auf die mit blauem Schulteppich ausgelegten Bühnen-Kampfarena, wo das Schicksal dem Lehrer die nächsten zwei Stunden lang eine Lektion erteilt: seine eigene Vorhersage erfüllt sich, er wird zum Oper.

Gedichte werden Indizien

Thomas Melle hat sein Stück "Versetzung" im vergangenen Sommer zu ende geschrieben. Wobei das Deutschen Theater Berlin das Stück schon früher in Auftrag gab. Man kann es als thematisches Beiwerk zu seinem Roman "Die Welt im Rücken" betrachten, der autobiographisch von manisch-depressiven Erkrankung erzählt. In "Versetzung" steht ebenfalls eine Hauptfigur mit bipolarer Störung im Mittelpunkt.

Versetzung 700 ArnoDeclair uDer Eine und die Anderen: Daniel Hoevels, Christoph Franken, Judith Hofmann, Helmut Mooshammer © Arno Declair

Melle wählt als Schauplatz eine Schule, und das ist tricky, trifft hier eine Welt zusammen aus neidischen Kollegen, ein um den Ruf ringender Schuldirektor, exzentrische Mütter, halb-paranoide Väter. Und eben Lehrer Rupp, dessen bipolare Störung im Griff scheint. Sie ist Teil seiner Vergangenheit, die er bisher verschwiegen hat und die mit anstehenden Beförderung zum Schulleiter gerüchteweise ans Licht kommt. Da taucht plötzlich ein alter Gedichteband auf, den er während eines Schubs veröffentliche. "Kranke Kacke", wie es im Kollegium heißt, als "neuronale Prozesse, die sich in Druckerschwärze materialisiert haben", und wie der misstrauische Physiklehrer triumphiernd feststellt: "Indizien".

Ganz schlechte Karten

Mit jedem kleinen Beweisstück für die Krankheit schreitet sie weiter. Oder kündigt sich der Schub nicht sowieso schon an? Der Direktor lobt, und der Lehrer fragt, was denn die Lobhudelei soll. Die Ehefrau umarmt ihn, und Rupp fühlt sich unangenehm auf die Schulter geklopft. Weniger auf die Innenwelt als auf eine unerbittliche Außenwelt und ihre Mechanismen zielt die der Abend. Und doch verkörpert Daniel Hoevels die Aufs und Abs, plötzlich reagiert er fahrig, misstrauisch und hibbelig, dann doch wieder bewusst ruhig loyal. Als eine alte Liebe in der Lehrersprechstunde auftaucht, reißt er ihr die Kleider vom Leib und drückt sie ins Aquarium, bis das Wasser weit herausschwappt. Auf der blauen Spielfläche arrangiert Regissuerin Brit Bartkowiak immer wieder kleine Begegnungen, die es in sich haben. Christoph Franken als Physiklehrer wittert schadenfreudig, dass etwas nicht stimmt und streut die Vorbehalte gegenüber psychischen Erkrankungen: "Das ist ein Makel, der auf uns alle abfärbt". Wer anfangs noch verteidigt, wie Judith Hofmann als charmant-vernünftige Philosophie-Lehrerin, verstummt bald.

Bartkowiak inszeniert mit Gespür für die Kippmomente, dafür, wie sich Angst und Vorwürfe in die Sprache drängen. Der Abend bleibt verspielt leicht, lässt aber auch Raum für die Dynamik, die in Melles Stück offen bleibt: Ist es die Angst vor Ausbruch der Krankheit, die die Krankheit ausbrechen lässt? Kann man es sich aussuchen oder nicht, das Schicksal noch stoppen? Melles auf den Punkt geschriebene Dialoge verhandeln auch ganz allgemein Ursache und Wirkung, Schicksal und Veränderung. Schön auch, wie der Abend am Ende nochmal die Form verändert und in chorischer, fast antiker Aufstellung das Leid des eigenen Daseins verhandelt, das Täter- und das Opfersein. Die leidvollen Aufs und Abs einer psychischen Erkrankung rücken am Ende in den Hintergrund. Aber die andere Mechanik ist schlimm genug: Wehe, wenn ein Irrer auf einen anderen Irren, nämlich einen autoritären Vater, und einen Neider trifft. Dann hat man, das erzählt dieser sehenswerte Abend, ganz ganz schlechte Karten.

 

Versetzung
von Thomas Melle
Uraufführung
Regie: Brit Bartkowiak, Bühne: Johanna Pfau, Kostüme: Carolin Schogs, Musik / Sounddesign: Joe Masi, Chor-Einstudierung: Bernd Freytag, Dramaturgie: David Heiligers.
Mit: Daniel Hoevels, Wiebke Mollenhauer (anstelle von Anja Schneider), Helmut Mooshammer, Judith Hofmann, Christoph Franken, Linn Reusse, Caner Sunar, Birgit Unterweger, Michael Goldberg.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

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