Aufgekratzt zwischen Mahnmal-Stelen

von Michael Wolf

Heidelberg, 20. April 2018. Die Mutter spricht mit belegter Stimme. Die Worte kosten sie Überwindung, kosten sie Kraft. Schwer sind ihre Sätze, der Ballast von Jahren des Schweigens liegt auf ihnen. "Diejenigen, die Armbanduhren hatten, versuchten sich mit dem Glas des Ziffernblatts das Leben zu nehmen, mir fehlte dazu der Mut, ich hatte ja noch meine Tochter, die draußen auf mich wartete …“. Und die Tochter? Stößt einen Teil der Bühne von sich weg, der große Holzklotz knallt auf den Boden. Das dumpfe Sturz-Geräusch hallt kurz nach.

Generation ohne Vergangenheit

Jeremias Böttchers Bühnenbild besteht aus einer Unzahl von geometrischen Figuren. Sie lassen realistisches Spiel zu, bergen Sitzgelegenheit, Wurfgeschosse, wenn sich die Heldin des Abends durch die Vergangenheit ihrer Eltern wühlt. Und Verstecke, wenn sie aus Angst vor Erkenntnissen zurückweicht. Anfangs thront Sophie Melbinger als Tara auf ihr wie auf einer Festung. Doch schon bald wirkt sie verloren, wie gefangen auf einer Eisscholle, von verborgenen Strömungen in die Ferne getrieben.

Kluge Gefuehle2 700 Kluge Gefuehle uZwischen Ausgelassenheit und Verzweiflung: in der Mitte Sophie Melbinger als Tara, die Freundin Rabia (Maria Magdalena Wardzinska) und Analytiker (Roland Bayer) © Sebastian Bühler

 

Maryam Zarees "Kluge Gefühle" gewann beim Stückemarkt des letzten Jahres den AutorenPreis. Isabel Osthues' Urauffühung des Stücks eröffnet nun das Festival. Zaree erzählt die Geschichte eines Traumas, das über die Generationen weitergegeben wird. Kurz nach der iranischen Revolution brachte Shahla ihre Tochter in einem berüchtigten Teheraner Gefängnis zur Welt. Die Schergen der Islamischen Revoultion folterten sie. Ihren Mann, Taras Vater, richteten sie hin. Shahla gelingt mit ihrer Tochter die Flucht nach Deutschland, wo Tara ohne Vergangenheit aufwächst. Denn sprechen will ihre Mutter nicht über die Zeit vor ihrer Flucht. 

Rettung durch Sprache

Zaree zeigt in ihrem Stück die schmerzenden Wunden, die – vielleicht vernarbt, aber nie verheilt – das Leben der Überlebenden bis heute prägen. Es endet mit der Aussicht auf eine Heilung, eine Rettung durch die Sprache, durch das Erzählen. Konsequent ist auch Zarees "Kluge Gefühle" eine Suche nach einer angemessenen Sprache für das Unaussprechliche. Ihr Stück ist ein well made play und noch wichtiger: eine Tragikomödie. In Taras Wortgefechten mit ihrer Mutter, ihrem Psychiater oder ihrer Freundin hat Zaree die Pointen dicht gesetzt. Dem Humor zugrunde liegt eine Verzweiflung – es ist ein Witz, der darauf hofft, das Lachen könnte den Schmerz verbergen.

Für diese Ambivalenz scheint sich Regisseurin Isabel Osthues nicht vornehmlich zu interessieren. Sie vertraut dem Text nicht. Zaree balanciert zwischen Leichtigkeit und Schwere, in Osthues' Regiebaukasten aber fehlt die Wasserwaage. Anstatt den Text in seiner Vielschichtigkeit zu präsentieren, wählt sie einen Aspekt aus und verstärkt ihn. Besonders die sanften, zärtlichen Stellen werden so fahrlässig niedergetrampelt.

Berührende Begegnungen

Osthues lässt ihre Hauptdarstellerin Sophie Melbinger (als Tara) allzu oft dem ersten Impuls folgen. Etwa, wenn Tara im Gespräch mit ihrem Psychiater eine freche Teenagerin raushängen lässt, obwohl sie längst erfolgreich als Anwältin arbeitet. Melbinger hetzt, schreit, wütet über die Bühne. Mal bringt sie so die Haltlosigkeit ihrer Figur zur Geltung, dann wieder wirkt ihr Spiel von schlichtem Aktionismus getrieben.

Kluge Gefuehle1 700 Kluge Gefuehle uEin Taxifahrer (Hendrik Richter) öffnet Tara beim zufälligen Gespräch die Augen © Sebastian Bühler


Dennoch gelingen dem Abend komische und vor allem berührende Momente: wenn Beatrix Doderer als Mutter Shahla endlich von der Folter im Gefängnis berichtet, wenn Melbinger in einem Speeddating-Gespräch von der Hoffnung auf ein freies Leben erzählt und vor allem bei dem kleinsten Auftritt dieses Abends. Hendrik Richter hat in seiner Rolle als Taxifahrer und ehemaliger Iran-Flüchtling nur ein paar Sätze Text. Aber die haben es in sich. Er erzählt Tara von seinem Bruder, der im gleichen Gefängnis einsaß wie deren Eltern. "Entschuldigen Sie, dass ich jetzt so emotional werde, es ist für mich immer sehr bewegend die Kinder der Gefangenen zu treffen. So, ich werde jetzt nicht weinen." Die Hölle der Erinnerung lässt seine Muskeln knistern. Richter zittert, seine Bewegungen sind fahrig, er stockt und will doch Kontakt aufnehmen zu seiner Schwester im Schmerz. Wohl dem, der es schafft, sich retten zu lassen.

 

Kluge Gefühle
von Maryam Zaree
Uraufführung
Regie: Isabel Osthues, Bühne: Jeremias Böttcher, Kostüme: Mascha Schubert, Dramaturgie: Lene Grösch.
Mit: Sophie Melbinger, Beatrix Doderer, Roland Bayer, Maria Magdalena Wardzinska, Hendrik Richter.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theaterheidelberg.de

 

Zum Stückporträt von "Kluge Gefühle" aus dem Vorjahr