Von der Rolle

April 2018. Wie muss eigentlich eine Rolle beschaffen sein, damit ein Schauspieler Lust hat, sie zu spielen? In der zeitgenössischen Dramatik sind solche Fragen aus der Mode gekommen. Diskutiert wurde zuletzt vor allem über Textflächen, neues politisches Schreiben oder Arbeits-Bedingungen für Dramatiker. Es wird Zeit, mal wieder genauer zu fragen, was die Figuren und ihre Rollen in einem Stück eigentlich ausmachen: Was erwarten Schauspieler von Rollen in Theaterstücken? Wann merkt ein Autor, dass eine Rolle funktioniert? Wie viel tut ein Regisseur bei der Suche nach dem Charakter hinzu?

Wir haben mit der Schauspielerin Constanze Becker, fest am Berliner Ensemble engagiert, dem Dramatiker Moritz Rinke, der dort das Autorenprogramm leitet, und dem freien Regisseur Christian Weise über die Bedeutung der Rolle heute gesprochen.

nachtkritik.de: Frau Becker, gibt es etwas, was Sie grundsätzlich von einem szenischen Text erwarten?

Constanze Becker: Nein, ich finde es im Gegenteil spannend, wenn ein Text etwas sperriger ist. Es fällt mir leichter, wenn ich einen gewissen Abstand zu einer Rolle habe, weil ich dann anfangen kann zu suchen. Da fällt mir sehr viel mehr ein, als wenn das abgeglichen ist mit dem, wie ich mich selbst sehe. Ich arbeite gerade an dem Stück "Krieg" von Rainald Goetz und mir ist das Lernen noch nie so schwer gefallen. Es ist die Hölle.

nachtkritik.de: Warum?

Constanze Becker: Das sind unendliche Wortergüsse, Aufzählungen und Wiederholungen. Ich muss mir da was bauen, damit überhaupt eine gedankliche Verbindung entsteht. Das ist eine wahnsinnige Arbeit. Stücke, in denen Menschen etwas miteinander zu tun haben, sind leichter, weil sich die Dinge aufeinander beziehen.

nachtkritik.de: Moritz Rinke, was sind denn für Sie gute Rollen?

Moritz Rinke: Was Constanze hier anspricht, ist vermutlich der Unterschied zwischen flächigeren Texten – ich scheue mich, dieses Reizwort Textfläche gleich zu verwenden – und Stücken. Rainald Goetz hat ja gar nicht den Anspruch, Figuren zu schreiben oder an psychologischer Nachvollziehbarkeit zu arbeiten. Seine Gedankenverdichtungen lassen sich szenisch und spielerisch nicht unbedingt einholen. Textflächen brauchen eigentlich immer noch einen zweiten Autor. Das sind dann die Schauspieler oder der Regisseur, wenn sie dieses Material szenisch auflösen. Schauspieler fangen dann an, etwas leibhaftig werden zu lassen. Ich vermute mal, Constanze, bei euch wird es am Ende auch so sein, dass aus der Fläche etwas Konkretes entsteht. Am Ende dieses Vorgangs steht dann eine Figur. Was sollen die Schauspieler sonst auch spielen? Mit einer Textfläche allein werden die meisten Schauspieler nicht glücklich.

nachtkritik.de: Das war jetzt ex negativo argumentiert. Wie würden Sie denn positiv formulieren, was eine Rolle ausmacht?

Moritz Rinke: Ich bin ja auch auf Constanzes "Höllenproben" eingegangen. Im Prinzip ist das Schreiben mit Figuren für den Autor immer schon eine Probenarbeit, eine imaginierte Probe. Ich stell mir beim Schreiben immer Schauspieler vor, und das heißt natürlich: rinke 2012 c Joscha JenneenMoritz Rinke
© Joscha Jenneßen
Man denkt den Körpergestus eines Schauspielers mit. Also: Constanze Becker hat eine bestimmte Art, sich Rollen anzueignen, Ulrich Matthes, mit dem ich früher viel gearbeitet habe, hat eine bestimmte Art, sich Rollen anzueignen. Man muss wahnsinnig genau sein, wenn man Menschen von Menschen erzählen lassen will und das, was zwischen Menschen passiert in einer Szene. Wenn man beobachtet, wird man sofort differenziert. Und je differenzierter es wird, desto mehr zwingt es, oder lädt die Schauspieler ein, genau zu sein und der Differenziertheit erst einmal zu folgen.

nachtkritik.de: Christian Weise, wann erkennt man als Regisseur, dass eine Rolle gut ist? Schon beim Lesen? Oder bei der Probe?

Christian Weise: Beim Lesen. Ich achte darauf, wie das Verhältnis zwischen den Figuren beschaffen ist und wie die Situationen aussehen, in denen sie sich begegnen. Das ist sehr unterschiedlich, je nachdem ob es zum Beispiel ein Shakespeare ist oder ein Stück von Yasmina Reza oder "Alles Schwindel". Das ist ein Singspiel, das ich gerade am Maxim Gorki Theater inszeniert habe, mit klar gezeichneten Figuren, die man bedienen muss. Je offener der Text ist, umso mehr denke ich mir zusammen mit den Schauspielern aus. Bei einer Textfläche stellen sich für mich die Fragen: Was für eine Grundsituation ziehe ich da raus? Wie viele Schauspieler in was für einer Konstellation besetze ich? Was für Figuren entstehen?

nachtkritik.de: Empfinden Sie sich dabei als Autor, so wie Moritz Rinke das sagt?

Christian Weise: Ganz und gar nicht. Ich habe Hochachtung vor dem Autor. In den Anfängen meines Studiums hat die Gruppe, der ich mich verbunden fühlte, Manifeste mit der Forderung geschrieben, dass man dem Autor wieder folgen soll. Wir haben damals Brechts "Maßnahme" eins zu eins gespielt. Einfach, um herauszufinden, was Brecht eigentlich damit gemeint hat, wenn sich die Leute hinstellen und ungebrochen das Lied vom Kommunismus singen.

nachtkritik.de: Wird jeder Text durch die Bearbeitung der Schauspieler*innen zu Figuren?

Constanze Becker: Ich sehe mich in erster Linie als Interpret und nicht als Künstler. Ich interpretiere etwas, was ein Autor mir liefert, was ein Regisseur mit mir erarbeitet, und stelle dann meine Interpretation dazu. Dadurch kommt man irgendwann an einen Punkt, an dem man sich von sich selber entfernt und eine Figur annimmt durch diese Arbeit. Nur dastehen und einen Text darbieten ist, glaube ich, sehr undankbar für die, die unten sitzen. Meine Arbeit – oder unser aller Arbeit – lebt ja von der Empathie des Zuschauers mit dem, was oben auf der Bühne passiert. Es muss irgendeine empathische Verbindung geben, mit einer Figur oder einem Thema oder einer Interpretation.

nachtkritik.de: Wie entwickeln Sie denn eine Figur? Gehen Sie vom Text aus, von der Sprache? Oder entwickeln Sie schon beim Lesen eine Haltung?

Constanze Becker: Ich gehe vom Text aus und entwickle auch beim Lesen eine Haltung, aber erst mal die, die den Text strukturiert, die versucht, ihn zu verstehen, ihm zu folgen.

nachtkritik.de: Lesen Sie den Text laut?

Constanze Becker: Nein. Ich lese ihn das erste Mal laut auf der Konzeptionsprobe. Was auch viel mehr Spaß macht, weil man dann mit anderen zusammen liest, und dadurch ergeben sich schon gleich andere Sachen. Ich muss mir das zu Hause nicht laut vorlesen.

Christian Weise: Ich lese immer laut.

Moritz Rinke: Ich auch. Am besten beim Laufen. Im Charlottenburger Park halten mich die anderen Jogger für einen Borderliner.

nachtkritik.de: Was ist der Unterschied?

Christian Weise: Beim stillen Lesen überfliege ich das eher. Beim lauten Lesen muss ich irgendwas spielen, also interpretieren.

Constanze Becker



Constanze Becker
© Screenshot Video Matthias Hecht
Constanze Becker:
Ich glaube, das ist da meine Angst, dass ich mir da schon zu viele eigene Vorstellungen mache, und dann komme ich zur Konzeptionsprobe und dann sagt mir der Regisseur: Das spielt aber ganz woanders, als du dir das gedacht hast.

Moritz Rinke: Ich musste mal im Film eine Rolle von mir selber spielen. Als ich sie schrieb, wusste ich das aber noch nicht. Beim Spielen hatte ich mir eine bestimmte Figur erarbeitet, die aber von der geschriebenen Figur abwich. Also habe ich die Rolle geändert und den Autor korrigiert. Das war so eine Art Doppelspiegel zwischen mir als Spieler und mir als Autor.

nachtkritik.de: Hat Ihnen diese Erfahrung beim Schreiben geholfen?

Moritz Rinke: Das hat sehr geholfen. Schauspieler waren für mich ja immer das Größte am Theater, weit mehr als - pardon - Regisseure ...

Christian Weise: Ist schon okay!

Moritz Rinke: Du hast vorhin das Wort "bedienen" gesagt. Ich finde das für das Verhältnis Autor- Regisseur ein bisschen besorgniserregend, also, dass man bestimmte Situationen spielen muss, damit das Stück funktioniert. Das ist meistens bei neueren Stücken der Fall, weil man ja erst einmal die Geschichte vorstellen muss. Man sollte ja nicht gleich eine Dekonstruktion liefern, warum dann uraufführen? Dieses Bedienen ist bei vielen Regisseuren leider negativ besetzt. Aber ich glaube, dass man, wenn man den Vorgaben eines Stücks zunächst einmal mal folgt, in ihm eine ganze Menge Freiraum findet. Regisseure reißen ja oft die Außenwände eines Stückes ein bevor sie überhaupt die Innenräume besetzt und ausgemessen haben.

Christian Weise: Ich meinte das auf die Rolle bezogen: die Rolle bedienen. Beim Stück würde ich das anders sagen.

nachtkritik.de: Nun gibt es aber in der Dramatik schon seit Jahrzehnten die Tendenz zu Textflächen. Was bedeutet diese Entwicklung?

Christian Weise: Die Textfläche ist situativ meist unkonkret. Wenn es der Text nicht vorgibt, muss ich zusammen mit den Schauspielern und dem Dramaturg einen Figurenfluss oder einen Ablauf entwickeln.

nachtkritik.de: Wirkt das per se auch auf die Rollen?

Christian Weise: Nein, da muss man unterscheiden. Das eine ist der Text und das andere ist die Rolle. Man kann sich natürlich sehr gut darüber streiten, wie man "Rolle" definiert. Für mich ist jede Rolle und jeder Vorgang, der auf der Bühne stattfindet, psychologisch begründet. Ich kann eine Figur nur psychologisch denken und jede Aktion der Figur nur psychologisch begründen. Auch bei der Textfläche. Da kommt nur die Psychologie oft nicht aus dem Text. Ein Autor schreibt zum Beispiel: Er geht da rüber. Das kann ich so inszenieren oder ich sage: Er geht jetzt doch nicht da rüber, sondern alle anderen gehen da rüber, das ist besser für den szenischen Ablauf. Bei vielen Stücken, wie zum Beispiel bei "Alles Schwindel", kreiert das aber keine neue Spannung, es macht nur die Szene kaputt. Deswegen sage ich ja auch: Man muss Rollen in bestimmten Stücken bedienen, damit die überhaupt stattfinden. Sie müssen tun, was der Autor will. Bei Textflächen funktioniert das anders.

nachtkritik.de: Gibt es auch Stücke mit Rollen, die so unstimmig sind, dass man sie gar nicht psychologisch herleiten kann? Ist das dann auch eine schlechte Rolle?

Christian Weise: Schlecht würde ich nicht sagen. Im Absurden Theater zum Beispiel sagen die Figuren ganz oft Sachen, die keinen Sinn ergeben. Ich habe zum Beispiel den Text "Blumenkohl" und gebe dir die Hand. Dann wird das konkret und der Text bekommt auf einmal einen Sinn. Das kann durchaus eine spielbare Rolle sein.

Moritz Rinke: Ich würde gar nicht von Rolle sprechen, ich würde von Figur sprechen. Das Wort hat mehr Öffnung für die Schauspieler.

Constanze Becker: Es gibt auch Autoren, die in ihren Stücken eine Textfläche auf Leute verteilen, die zum Beispiel Judith, Dieter und Martin heißen, aber die alle in derselben Sprache über ein Thema quatschen. Vielleicht vertritt Martin den einen Standpunkt und Judith ist eher ein bisschen kontra oder links rechts oben. Aber das sind keine Menschen. Das finde ich sehr schade, weil es so einen Spaß macht, die Komplexität und auch die Widersprüchlichkeit von Menschen zu spielen. In kanonischen Stücken findet man diese Menschen und deswegen haben die auch so lange überlebt. Weil man immer einen Aspekt findet, der für uns gerade interessant ist und die Figuren trotzdem Menschen bleiben können.

nachtkritik.de: Menschen tauchen doch aber auch in zeitgenössischen Stücken auf. Wo liegt der Mangel?

Constanze Becker: Die Uneindeutigkeit, die Menschen ausmacht. Menschen sind nicht geradlinig, logisch und reden ständig kluge Dinge. Man möchte ja unten sitzen und klüger sein, um anderen beim Scheitern zuzusehen. Egal, ob man ein komisches oder ein tragisches Stück sieht. Reine Klugheit ist sehr unsexy. Ich liebe es, doofe Menschen zu spielen.

Christian WeiseChristian Weise 
© Adrian Vazquez Rey
Christian Weise:
Ich glaube, es hapert bei vielen Autoren an der Technik. In Amerika gibt es bei jedem Film hundert Skriptdoktoren. Vor kurzem war ich in London im Theater. Wenn die ein Gegenwartsstück machen, dann stimmt die Dramaturgie von hinten bis vorne. Die können das wirklich sehr gut. Diese Art der Technik, dieses szenische Schreiben, das gibt es meiner Meinung nach zu wenig bei uns.

Moritz Rinke: Es geht um Genauigkeit. Bei einer Textfläche kann man über vieles hinweggehen. Die kann man von außen bewundern und sagen: was für ein intellektueller Diskurs, was für ein Material. Oder man kann sie nicht verstehen und sagen: Ich komm nicht rein, es ist die Hölle. Anders ist es, wenn du Figuren hast und das Spiel zwischen ihnen. Oh Gott, ich klinge wahrscheinlich ein bisschen wie Oliver Kahn im ZDF, wenn er die Psyche von Spielern erklärt … Also: Wenn du Figuren hast, dann musst du immer genauer werden. Und je genauer du wirst, umso angreifbarer machst du dich auch. In einer konkreten Szene erkennt man viel leichter eine Schwäche. Deswegen ist das Figuren- oder Rollenschreiben auch so angreifbar. Man gibt sich tausend Blößen, weil man eben Menschen beschreibt. Das ist eben komplett anders und ich behaupte, schwerer als eine Textfläche. Wir versuchen gerade am Berliner Ensemble, den Schreibprozess selbst am Theater stattfinden zu lassen. Da kommt der Regisseur schon vor Abschluss des Stücks dazu, da lesen Schauspieler verschiedene Fassungen. Von guten Schauspielern kann man lernen, Figuren nicht zu verraten, nicht lächerlich zu machen, sondern glaubhaft zu sein. Oft merkt man erst auf der Probe, dass man noch Text wegnehmen kann. Die Gegenwart der Schauspieler reduziert das, was man geschrieben hat, weil auch körperlich etwas vorhanden ist. Deswegen ist es so wichtig, sich als Autor an Schauspielern zu halten.

Christian Weise: Ich finde das sehr gut. Wenn ich richtig verstehe, wollt ihr in eine Interaktion treten?

Moritz Rinke: Wir haben das ein bisschen amerikanisiert. Es werden auch Treatments geschrieben. Themen und Figurenentwicklung stehen im Vordergrund. Wir gehen erst mal einen inhaltlichen Weg, bevor die Form kommt.

nachtkritik.de: Ist es die Regel oder die Ausnahme, dass Sie wissen, wer welche Rolle spielen wird, wenn Sie ein Stück schreiben?

Moritz Rinke: Nicht bei allen Figuren. Jetzt gerade schreibe ich zum Beispiel ein Stück, eine ganze neue Fassung der Wahlverwandtschaften, ohne, dass da ein einziges Wort von Goethe vorkommt. Da gibt es eine sehr starke, in sich ruhende Frau, fast eine Königin. Das ist eine auf den ersten Blick sehr ernsthafte Frau, die aber auch einen Tick ins Absurde, Wahnwitzige hat, einen Hang zur Eskalation. Und da denke ich beim Schreiben an Constanze, die in meinem Stück "Wir lieben und wissen nichts" gespielt hat. Das war übrigens keine Rolle, die ich für sie geschrieben habe. Die Aufführung habe ich oft gesehen und andere Figuren, die sie verkörpert hat.

nachtkritik.de: Jens Harzer hat bei der Verleihung des Boy-Gobert-Preis geklagt, dass die Regisseure die Schauspieler zu dramaturgischen Mithelfern machen würden, anstatt mit ihnen die Rolle zu erarbeiten. Gibt es da eine Tendenz der Regisseure?

Christian Weise: Das mache ich nicht.

Constanze Becker: Das kann ich auch nicht unterschreiben. Ich mag es sehr, wenn der Regisseur auch dramaturgisch einen Plan hat. Dann muss ich mich darum nicht kümmern. Aber das ist auch von Stück zu Stück verschieden. Es gibt auch Stücke, die entstehen im Miteinander. Prinzipiell ergibt die Arbeitsteilung zwischen Regie und Schauspiel schon Sinn. Wenn der Regisseur den Schauspieler lenkt und korrigiert und auf eine Bahn setzt, aber auch mit seiner Fantasie machen lässt.

Moritz Rinke: Jens Harzer beschreibt ein Systemproblem. Das System sieht vor, dass Regisseure klare Handschriften zu Markte tragen. Das betrifft die Form, aber eben auch die eventuell dramaturgische Weiterschreibung des Stücks, den sie mehr als Stoff betrachten. Ich beschreibe das ganz wertfrei. Ich habe mal einen Regisseur erlebt am Hamburger Thalia Theater, der in großer Konkurrenz stand zu einem anderen Hausregisseur. Und dann kam mein Stück raus und ich war sehr glücklich über seine Arbeit. Ich habe zu ihm gesagt: "Das war so toll auf der Probe mit den Schauspielern." Und er hat antwortet: "Ja, aber so arbeite ich nie wieder. Ich komme ja gar nicht vor!" Ich glaube, in diesem Dilemma befinden sich Regisseure oft. Wenn sie sich konzentriert mit den Schauspielern beschäftigen und das Stück atmet und die Geschichte ist da, dann glauben sie, dass andere glauben, der Regisseur würde verschwinden. Eigentlich ist es wunderbar, wenn der Regisseur verschwindet. Ich suche immer nach einem Regisseur, der so groß und entspannt ist, dass er verschwindet und einem dann wieder in den Sinn kommt, wenn man wie wild die Schauspieler feiert. Ich hoffe, das Bild ist klar.

Christian Weise: Aber das ist doch auch Konzept und Marketing. Ich würde das nicht unterscheiden.

Moritz Rinke: Ein anderes, konkreteres Beispiel: Es gibt in den sogenannten Provinzen handwerklich extrem gute Regisseure. Die kommen aber nie an die großen Häuser, weil sie als langweilig gelten. Sie arbeiten quasi im Innenraum eines Stückes und nicht im Dachstuhl über dem Stück.

Christian Weise: Da muss ich ganz klar widersprechen. Zunächst gibt es viele langweilige Regisseure an den großen Häusern, ganz klar. Da muss ich auch gegen meine eigene Zunft austeilen. Aus meiner Erfahrung gibt es aber in der sogenannten Provinz auch sehr viele Regisseure, die im sogenannten Dachstuhl arbeiten und dort große und sehr gute Konzepte auf die Bühne stellen. Dass die nicht an den großen Häusern arbeiten, hat nichts mit der Rolle zu tun oder mit der Arbeit mit den Schauspielern.

Moritz Rinke: Das ist jetzt ein Missverständnis. Ich meine es in Bezug auf Gegenwartsdramatik. Warum gibt es so wenig Uraufführungen neuer Stücke durch sogenannte große Regisseure? Das kann man messen. Das hat mit der Attraktivität zu tun, das wollte ich sagen. Bei einem neuen Stück ist die Herausforderung erst einmal: zurücktreten und das Stück dem Publikum erzählen. Regisseure mit marktwirksamen Handschriften interessiert das weniger. Das hat aber auch damit zu tun, dass die Uraufführungen meistens in den kleinen Häusern und Studiobühnen stattfinden.

Christian Weise: Ich glaube, es liegt daran, dass viel zu wenig Networking betrieben wird. Ich arbeite mit Sören Voima seit vielen Jahren zusammen. Das machen wir, weil wir uns kennen und gemeinsame Interessen entwickelt haben. Woran es krankt, ist doch, dass ich von einem Intendanten angerufen werde und der sagt: "Ich habe eine Uraufführung bekommen, machst Du das?" Dann lese ich das Stück und sage: "Gute Idee, aber es ist nicht rund, ist denn der Autor ansprechbar?" Der Autor sagt aber: "Nee, das ist fertig." Und ich antworte ihm: "Lass uns das mal mit Schauspielern lesen, dann wirst du sehen und hören, dass das hinten und vorne nicht stimmt." Wenn ihr es am Berliner Ensemble schafft, diesen Prozess produktiv zu bekommen, ist das wunderbar! Ich habe mal, weil wir uns kennen, mit Falk Richter ein Projekt zusammen gemacht, das auf seinen Stücken basierte. Ich habe erst alle seine Stücke gelesen, ihm gesagt, welche Szenen mir gefallen und aus denen hat er ein neues Stück gebaut und fehlende neu geschrieben. Diese Zusammenarbeit hat auch Spaß gemacht.

nachtkritik.de: Constanze Becker, haben Sie mal eine Situation erlebt, in der Sie ein neues Stück bekommen haben und dachten, nein, das kann ich nicht, ich finde keinen Zugang?

Constanze Becker: Ich habe jetzt bei dem Goetz schwer zu arbeiten, diese Mengen an Text zu bewältigen und mir etwas auszudenken. Und die Probenzeit ist wahnsinnig wenig für so ein Ding. Wir haben jetzt noch viereinhalb Wochen und das ist fast unmöglich. Um das Beispiel Falk Richter aufzugreifen, mit dem ich auch zwei Arbeiten gemacht habe: Das war sehr unterschiedlich, ich habe mit meinen Texten in den beiden Stücken immer sehr viel anfangen können, ich fand die immer grandios. Mit anderen Textstellen weniger, die hätten mir Schwierigkeiten bereitet.

nachtkritik.de: Das klingt wie ein Beispiel dafür: wenn man als Dramatiker die Schauspieler kennt, kann man die Rollen im guten Sinne für sie schreiben.

Constanze Becker: Oder ihnen zumindest Material zuordnen, und man weiß, wenn ich das Frau Becker gebe, wär’s nicht so gut.

nachtkritik.de: Sie haben gerade von der wenigen Zeit gesprochen. Liegt es an den veränderten Arbeitsbedingungen, dass der Stadttheaterbetrieb stärker getaktet ist und fehlt ausreichend Zeit, eine Rolle zu entwickeln?

Constanze Becker: Für einen normalen zwei bis zweieinhalb Stunden Abend sind sieben Wochen okay. Es gibt Regisseure, die brauchen weniger, Michael Thalheimer bekam für "Penthesilea" einst acht Wochen, am Ende hat man wieder Zeit weggenommen, und wir waren immer noch anderthalb Wochen zu früh. Er weiß klar, was er will und irgendwann ist es fertig. Andere Regisseure könnten ein halbes Jahr proben, da wird man nie fertig. Jürgen Gosch hätte zwei Wochen oder zwei Jahre proben können, es wäre immer etwas gewesen, es war ein stetiger Prozess und zur Premiere hat man das genommen, wo man gerade war.

nachtkritik.de: Braucht es aus Ihrer Sicht denn eigentlich wirklich immer wieder neue Stücke und Stoffe? Immerhin haben wir ja einen Kanon antiker und klassischer Stücke, der immer noch spielbar ist. Was würde fehlen ohne Gegenwartsdramatik auf den Bühnen?

Christian Weise: Unsere heutige Erfahrung von Welt ist wichtig und muss beschrieben werden. Darin sehe ich unseren Kulturauftrag. Dafür braucht es den Gegenwartsautor unbedingt, weil sein Blick aus der Jetztzeit kommt. Das ist noch mal etwas anderes, als meinen Blick durch Shakespeare hindurch auf die Gegenwart zu richten.

Constanze Becker: Ich finde Stücke wichtig als Gegenwartsdokumente. Mir geht es – um noch ein letztes Mal auf meine jetzige Arbeit zu kommen – mit einem Stück aus dem Jahr 1986 schon so, dass man denkt: Das ist ja lange her. Wir hatten zum Beispiel auf der Probe eine hitzige Diskussion darüber, ob man das Wort N***r sagen dürfe, das im Text steht. Einige meinten, dass das sicher negativ kommentiert würde. Andere sagte, dass der Text eben ein Zeitdokument sei. Man muss auch Stücke aus ihrer Zeit heraus begreifen. Heute würde das so nicht mehr geschrieben. Ich finde es wichtig, dass es Stücke gibt, die ihre Zeit abbilden.

Moritz Rinke: Es wäre schade, wenn man es aufgeben würde. Die Menschen in zweitausend Jahren wollen doch bestimmt auch wissen, wie wir gelebt haben.

 

Das Gespräch führten Simone Kaempf, Georg Kasch und Michael Wolf im Februar 2018.

Kommentare  

#1 Interview Becker, Rinke und Weise: vorübergehende EinmischungDorit Rust 2018-04-09 15:14
Oh, was für ein interessantes Gespräch, ich musste leider mithören, Gespräche lesen ist eine Art Mithören im Vorübergehen. Und da ich zumindest Dich, Moritz, kenne, würde ich mich gern einmischen in das Gespräch und hoffe, dass es nicht unhöflich wirkt, obwohl unsere letzte – mir angenehme - Begegnung lange Jahre zurückliegt. Nicht nur für Dich unhöflich, auch für Constanze Becker und Christian Weise nicht, denen ich noch nie begegnet bin… Ich kann vollkommen nachvollziehen, was Sie sagen, Frau Becker, was Sie erwarten von einem Rollenangebot in einem Stück. Dass Sie Sperrigkeit mögen. Ich habe immer das Gefühl, dass diese Sperrigkeit, die Schauspieler und Schauspielerinnen an Stücktexten mögen, nicht dieselbe Sperrigkeit ist, die Regisseure und Regisseurinnen daran mögen, weil sie unterschiedliche Intentionen für eine Interpretation eines Stückes haben. Ich denke, das hat mit dem Rollen-Begriff zu tun. Die Schauspieler schaffen aus meiner Sicht überhaupt erst die Rolle. Ich versuche immer so Dramatik zu schreiben, dass der Schauspieler die Rolle einer Figur in der Figurenkonstellation eines Stückes übernimmt. Sich sie verantwortlich fühlt, indem er sie auf nur seine eigene Weise annimmt als Aufgabe. Und sich gleichzeitig gegenüber der Figur und ihrer Situation und den anderen Figuren, die durch andere Schauspieler als Rolle ebenso übernommen wurden, kritisch verhält und sie eben dadurch spezifisch gestaltet. Erst durch die Interaktion von Schauspielern, die alle die gleiche Aufgabe mit einer jeweils anderen Figur übernommen haben, die sich zusammen in diesen Stückort und diese Stückzeit und ihre durch Erfindung erzwungenen Begegnungen befinden, entsteht dann nach und nach durch Erprobung eine Vorstellung von Menschen. Von Menschen als reale Möglichkeit, die man dann dem Publikum in der Vorstellung eben dies: vor-stellt. Das Publikum kann sich mit ihnen als Möglichkeit vergleichen, Unterschiede und Ähnlichkeiten entdecken, Zweifel kultivieren, Widerstandswillen gegen bestehende Verhältnisse entdecken, sich auch mit Fremden – und Fremdem – unterhalten. In jedem Sinne! –
Was Goetz und seinen „Krieg“ anlangt, denke ich nicht, dass er nicht den Anspruch der Nachvollziehbarkeit hat. Er hätte sich das Stück als Stück sonst sparen können. Das ist ja nicht nur anstrengend zu lesen und einzustudieren, sicher war es auch anstrengend zu schreiben. Goetz hat ja individuell die psychiatrische Erfahrung, die er durch sein ebenfalls profundes Geschichtswissen schleifen kann, durch Jahrhunderte; er muss für sich nicht den Anspruch der Nachvollziehbarkeit haben. Die zu bewältigende Nachvollziehbarkeit ist das, was er an Theater durchreicht: Die Aufgabe. Denn sehr vermutlich haben auch in "Krieg" – und Goetz selbst weiß das! – die Menschen miteinander zu tun! Immer haben Menschen miteinander zu tun. Sie wissen es nur so selten von sich. Das macht ja die Kriege aus, meiner Ansicht nach. Dass die Menschen immer denken, sie haben nichts miteinander zu tun, bloß weil sie einander nicht persönlich kennen vielleicht. Das ist die Psychopathologie des Krieges. Jeden Krieges. Es kann die Hölle sein vielleicht, dieses Wissen zu haben und nicht banal teilen zu können. Und es gibt schlimmere Orte als das Theater, anderen die Nachvollziehbarkeit solchen Wissens in gewisser Weise aufzuzwingen…
Interessant finde ich, Moritz, dass Du, wenn Du über das Schreiben von Dramatik redest, „man“ sagst. Als kenntest Du das Patentrezept, das für alle Dramatiker gültig sei. Ich kann nur sagen, dass das bei mir so überhaupt nicht funktioniert, dass ich mir beim Schreiben Schauspieler, konkrete Schauspieler vorstelle. Mehr noch: Ich würde wegrennen, erwischte ich mich dabei!. Es kommt vor, dass ich mir, wenn ein Stück fertig ist, Schauspieler vorstelle, die in der ein oder anderen Figur eine überaus dankbare Aufgabe sehen könnten – aber ich halte beim Schreiben meine Vorstellung von Theater-Konkreta jeglicher Art sauber. Das geht sogar soweit, dass ich große Anstrengungen darauf verwende, mir keine konkreten, mir bekannten, Menschen als Figuren-Vorbilder vorzustellen. Passiert es mir doch einmal, ist das immer mit großen Schamgefühlen verbunden. Ich habe dann das Gefühl, ich würde konkrete Menschen verraten, indem ich sie durch Schreiben schlachte. Das geht nur dann schamfrei, wenn eine Figur einer Person ähnelt, die so weit eine öffentliche Person ist, dass andere vor mir das Schlachten schon übernommen hatten. Dann kann ich versuchen, sie zu „retten“. Ihr eine fremde, intime Privatheit zurückzugeben durch das Stück und seinen Spielrahmen… Was die Textflächen betrifft, würde ich Dir zustimmen, dass die immer einen zweiten Autor brauchen. Das sieht man ja auch sehr gut, wenn, was häufig vorkommt, Romane für Theater bearbeitet werden. Die sind auch erzählende Prosa. Die Textfläche hat, denke ich, einerseits das Regietheater auf seinen Zenit befördert. Weil der Regisseur (auch hier: derMenschalsRegisseur!) in gewisser Weise als zweiter, nachbereitender Autor das sonst nicht als Spiel dargestellt bekommt. Er muss aktiv den Rahmen bilden, den Ausschnitt bestimmen, in dem von ihm ausgewählte Figuren agieren, sich eher diskursiv als sich miteinander durch Handeln treibend in einem Zeit- und Bilderbogen bewegen. Das hat oft dann etwas Revueartiges zum Ergebnis. Das ist durch den flächigeren Text unvermeidbar, dass das etwas Revueartiges bekommt. Die Schauspieler sind extrem abhängig von der Regie bei diesen Texten. Von ihren Einfällen. Auch vom Bühnenbild. Für ihre eigenen Verkörperungseinfälle…Textflächen können der Profilierung von Regie und nachbearbeitenden Autoren dienlich sein, auch einzelnen Schauspielstars - aber sie vernachlässigen das Ensemble und die schauspielerische Interaktion als in Echtzeit entstehendes Bühnenkunstwerk…Andererseits denke ich, dass die lange Zeit präferierte Flächenstruktur von Texten jetzt das Theater aber auch dramaturgisch an einen Nullpunkt der anderen Art gebracht hat. Weil die geistige Aufgabe fehlt. Die Regie, die die geistige Aufgabe über lange Jahre an sich gerissen hat, hat das Schauspiel als Ensemble-Kunst entgeistert zurückgelassen.
Ich finde wahnsinnig wichtig, was Christian Weise beschreibt: das laute Lesen gemeinsam mit den Schauspielern. Wenn ich mir etwas wünschen könnte vom Theater und auch von Verlagen und Dramatik Schreibenden wünschen dürfte, dann wünschte ich mir mit einem neuen Gegenwartsstück obligat das laute Lesen mit Schauspielern. Vor einer Konzeptprobe. Dass alles, was zunächst an Konzept da ist, nur das Konzept des Autors allein in Form des Stückes ist. Des FERTIGEN Stückes. Wesentliche Änderungen darf es da nicht mehr geben. Sonst hat der Autor keine Aufgabe gestellt an das Theater. Dann ist das keine Dramatik, sondern irgendwas anderes, was er geschrieben hat. Es kann auch möglicherweise nachgestellt im Theater werden, aber das ist dann wie geliefert. Ich kann mir nichtvorstellen, dass das jemanden, der Dramatik schreiben will, interessiert, sowas zu machen… Wenn eine Regie, eine Dramaturgie oder ein Schauspieler ein Stück von mir ohne lautes gemeinsames Lesen mit mir und Schauspielern oder ohne gründliche konkrete Nachfragen verstanden hat, hab ich was falsch gemacht damit! Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem das so wäre!
Interessant ist auch ein weiteres Problem, das Constanze Becker anspricht. Das ist diese Sache mit den auf verschiedene Personen verteilten Textflächenanteilen, die uns keine Utopie des realen Menschen als erfundene Möglichkeit schenken… Das finden wir in der gängigen und oft gelobten Gegenwartsdramatik sehr häufig. Ich denke, es liegt weniger daran, dass die oft so klug sind und so eloquent schwatzen können, sondern wirklich daran, dass die oft so eindeutig sind. Sie sind politisch intendiert. Schon als Figuren. Und das macht Theater zu einer Propaganda-Schleuder, die im Grunde Nachrichten mit theatralen Mitteln vorführt. Ich denke nicht, dass die Leute unten oder jedenfalls im Jenseits der Bühne oder dessen, was als Bühne gerade behauptet wird, andere ausschließlich Scheitern sehen wollen. Sie wollen sie sehen wie sich: Scheitern und Erfolg haben, trauern und feiern, zweifeln und triumphieren, sie wollen sich sehen. In ihrer ganzen Möglichkeit zu leben, nicht nur in ihrer Begrenzung durch vorgegebene Verhältnisse. Sie wollen sich als Utopie sehen, nicht nur als abgebildete Krüppel ihrer verschenkten Möglichkeiten…
Schließlich: ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn eine Schauspielerin wie Constanze Becker sich für eine meiner Figuren interessieren, erwärmen, von ihr fesseln lassen könnte – Aber wirklich wollen will ich etwas anderes: Ich will, dass Theaterleiter zu Regisseuren sagen: das muss ausprobiert werden von Schauspielern. Das muss von sich daran abarbeitenden Schauspielern dem Publikum angeboten werden als eine abständige Sicht auf Zeit, Ort und Menschen, die sich in ihren Zwängen bewegen und miteinander umgehen müssen, gleich zu welcher Zeit, genauso wie wir heute auch, als Sicht auf Universales im Moment – Freilich muss man dafür zunächst das Theater als Betrieb neu erfinden. Nun, dann muss das eben so sein-

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