Hindernislauf zwischen den Zeiten

von André Mumot

April 2018. Es gibt einen Club, in dem man sich trifft. Bei deutschem Bier. "Schön hier." "Nicht wahr?" Teutonia heißt das Lokal, das in der zwanzigsten Szene feierlich besichtigt wird. Man sieht sich um, ist beeindruckt. Die Figuren im Stück staunen, und der Leser des Stücks erst recht. "Frisch renoviert!" "Ich meine die Hakenkreuzfahne." "Unser ganzer Stolz." "Ein bisschen überdimensioniert." "Wir sind in Istanbul." "Eben."

In den späten dreißiger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts befinden wir uns, und "eine reichsdeutsche Parallelgesellschaft am Bosporus" lädt zum traditionellen Faschingsfest, zum "Pittelsburger Jahrmarkt": "Zu diesem tollen Trubel vereinigte sich die Kolonie in einmütiger Geschlossenheit." Was grotesk klingt, nach wahnwitziger Farce, ist historische Realität, wurde ohne Umwege hervorgeholt aus der Familiengeschichte des Autors. Carsten Brandau zitiert sie direkt, übernimmt lange Passagen aus den Memoiren seines Urgroßvaters, die dieser in den 60er Jahren schrieb, jedoch nie veröffentlichte. Brandau beschäftigt das absonderliche Manuskript schon lange, er hat es bereits in mehreren Stücken als inhaltliches Sprungbrett genutzt. Jetzt aber gibt es zum ersten Mal den vollständigen Rahmen ab, durchbricht immer wieder seine Dialoge, wird zum Gerüst und zur Herausforderung.

Aus der Korrespondenz des Großvaters

Ein aus Schleswig-Holstein stammender Reedereikaufmann war dieser Urgroßvater, arbeitete in den 20er und 30er Jahren für die Deutsche Levante-Linie und strandete aus geschäftlichen Gründen in Istanbul, wo er, als überzeugtes NSDAP-Mitglied, irgendwann zum Ortsgruppenleiter avancierte: "So sah ich mich plötzlich mit der Menschenführung einer Kolonie von etwa 1200 Mitgliedern (davon nur 200 Parteimitgliedern) betraut." Wir nehmen teil daran, wie er Feste organisiert und die Korrespondenz mit Berlin erledigt, wie er Sportplätze anlegen lässt und die eigene Tochter mangels brauchbarer Alternativen zur BDM-Führerin macht. Bis zur Nachkriegs-Entnazifizierung in Deutschland reicht der Bericht, und die endet mit einem lakonischen "Hurra", da die Bürokratie seinen Fall schlicht verschluckt und, wie so oft, der bequemen Vergesslichkeit der Nachwelt überantwortet. 

brandau carsten vitaCarsten Brandau
© Stefan Malzhorn
Carsten Brandau, 1970 in Hamburg geboren, hat seine größten Erfolge im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters eingefahren, erhielt bereits zwei Mal den Mühlheimer KinderStückePreis und wurde erst im vergangenen Jahr für "Sagt der Walfisch zum Thunfisch" mit dem Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin ausgezeichnet. Vielleicht liegt es auch daran, dass er bei der Recherche in die Untiefen der eigenen Familiengeschichte nicht der Versuchung erliegt, sachliches Dokumentartheater zu verfassen – ganz im Gegenteil. Sein "Ortsgruppenleiter von Istanbul" ist durch und durch verspielt, eine wild aus dem Vollen schöpfende Suchbewegung zwischen den Zeiten, ist Annäherung und Abgrenzung zugleich, eine vertrackte Fantasie über die unheilvolle Wiederkehr des Immergleichen.

Dabei ist schon die Grundlage kompliziert genug. Schließlich treffen in der deutschen Kolonie stramme Nazis auf die Wissenschaftler und Akademiker, die in Deutschland aus politischen Gründen ihre Stellung verloren haben und eingeladen wurden, um die Türkei, wie eine Figur im Text sagt, "mit ihrem Wissen aufzuklären und in ein westorientiertes Land zu verwandeln." Eine Konstellation, die sich der Autor zunutze macht, um seine eigentliche Hauptfigur einzuführen, die im Stücktext allerdings nicht weiter benannt wird (Rollenzuweisungen gibt es keine).

Ein arbeitsloser Schauspieler flüchtet sich, verfolgt von der SS, erst in seinen eigenen Wandschrank und dann, mittels Orientexpress, nach Istanbul, wo er glücklos den vertriebenen Wissenschaftler mimt. An Karl Roßmann aus Kafkas "Amerika" erinnert dieser namenlose Davonläufer, denn auch er ist tragikomisch in seinem ständigen Scheitern, seinem Erniedrigtwerden, seiner Orientierungslosigkeit, irgendwo zwischen Slapstick und existentieller, lebensbedrohlicher Katastrophe, zwischen surrealem Hindernislauf und realem Weltenbrand. Vor allem aber steht er zwischen Damals und Heute, ist ebenso Teil der nationalsozialistischen Vergangenheit wie unserer derzeitigen Fluchtbewegungen.

Über Grenzen gehend

In Brandaus Text folgt Zeile auf Zeile, Gegenrede auf Gegenrede, Assoziation auf Assoziation. Er ätzt und spottet und wütet immer in mehrere Richtungen gleichzeitig. "Die Grenzen der Zeit können nicht überwunden werden", heißt es an einer Stelle. "Dafür gibt es die Schuld." "Für die ich nichts kann." Karl May und Klaus Kinski, Mata Hari und Hitler, alles nähert sich an, wird in ein Kabinett aus sich spiegelnden Spiegeln gezogen, verzerrt, der Lächerlichkeit preisgegeben und tiefem empörtem Ernst, weil es immer auch um unser heutiges Deutschland und die Türkei Erdogans geht, um westliche Arroganz, um das Erstarken des Rechtspopulismus und um neue autokratische Tendenzen am Bosporus. Dabei wird das Überlappen der zeitlichen Zusammenhänge zur produktiven Gedankenüberreizung, absichtsvoll und unerbittlich. 

Lang ist das Stück, entfaltet seinen Furor auf knapp hundert Manuskriptseiten und stellt sich dabei konsequenterweise auch selbst in Frage. Ein Vorspiel auf dem Theater gibt es, eine erste vertrackte Spiegelei, gleich zu Beginn, bei der Bühnenalltag und politische Propaganda in einander greifen. Ausgerechnet Teile aus der Satzung der Türkischen Regierungspartei, verfasst in den dreißiger Jahren, werden zum Vorsprechtext: "Normalerweise besteht eine Bevölkerung aus Gruppen mit verschiedenen politischen Überzeugungen. Gesünder ist es aber, diese Gruppen zu einer einzigen homogenen Gruppe zu machen. Diese Aufgabe kann nur ein charismatischer nationaler Führer meistern."

Dialektische Wahrheitssuche

Auch das "hochverehrte Publikum" wird direkt angesprochen: "Sie haben ein Recht darauf, dass Sie vom Theater nicht mit Banalitäten und zynischen Besserwissereien abgefrühstückt werden", verkünden da die Stimmen, kalauern, hüpfen hinein in die nächste ironische Brechung: "Da kommt eine Figur um die Ecke! Bloß schnell die kalte Schulter zeigen. Bloß schnell wegducken. Bin nicht da! Ab auf die Metaebene." 

In Carsten Brandaus Stück ist die Vergangenheit ein ebenso kompliziertes Problem wie die Gegenwart, die eigene Biographie ebenso schwierig zu bewältigen wie die Kunst, das Theater, die zu erzählende Geschichte. Daraus schlägt es Funken, bietet sich an als heikles und gerade deshalb ergiebiges Geschenk an die Theater, die ihre Wege finden müssen durch diesen Text, ihre eigenen Blicke und Gegenreden. "Aber das kann doch alles überhaupt nicht wahr sein!", ruft es einmal heraus aus diesem Text, und als Antwort kommt, ganz schlicht, ganz simpel: "Überlass es der Wahrheit, sich selbst zu beurteilen."
 

Lesung von "Ortsgruppenleiter von Istanbul" am zweiten Tag des Autorenwettbewerbs, Sonntag 22. April 2018, 14.30 Uhr im Alten Saal