Tief im dunklen Wald

von Georg Kasch

April 2018. Wie erzählt man Kindern vom Horror der Flucht? Gleich zu Beginn, die Handlung hat noch nicht begonnen, fragen sich Hannes, Greta und Dina: Wo anfangen? Wie enden? "Am Ende ist alles gut. Wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende", zitiert Greta einen dieser fiesen optimistischen Kalendersprüche. Und am Ende? Bleibt alles offen. Weil eine Geschichte über Flucht kein eindeutiges Ende hat. Weil auch ein Märchen nie endet, sondern mit einer Bedingung aufhört: "Wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute."

Und weil Esther Becker in ihrem Stück "Wildbestand" mit der Figur der Dina kein singuläres Schicksal schildert, sondern einen exemplarischen Charakter, in dem sich viele Schicksale und Geschichten überlagern. Dina ist "Die Namenlose". Sie hat sich im Baumhaus der Kinder eingenistet, lebt von deren weggeworfenem Essen, schläft unter einer dieser goldglänzenden Notfallwärmedecken.

Mutter markiert die Bäume

Die Geschichte vom Kind auf der Flucht, das sich illegal im Wald versteckt, verwebt Becker mit Motiven des Grimm-Märchens "Hänsel und Gretel". Dort spielt der Wald eine dominante Rolle als zivilisationsfeindliche Wildnis und magische Gegenrealität. In "Wildbestand" hat er viele Funktionen: Zuflucht, wirtschaftliche Lebensgrundlage, Lebenssymbol. Die Mutter, durch ökonomische Zwänge hart wie im Märchen, teilt als Försterin mit Markierungen die Bäume in jene, die wachsen sollen und jene, die gefällt werden müssen. Das erzählen die Kinder Dina, die fragt: "Wie entscheidet man das? Wer eine Zukunft hat?"

Das ließe sich ja auch zu jedem Asylverfahren anmerken. Überhaupt die Mutter: Sie reagiert auf den ökologischen und gesellschaftlichen Wandel, indem sie den Wald verlässt, wegziehen will, alles verkauft: "Die Försterei ist vorbei / Möbel aus Plastik / Bücher vom Bildschirm / Und 'Rettet die Bäume!' / 'Denken Sie nach, bevor Sie das ausdrucken!' / Ich muss mich nach etwas Neuem umgucken."

Das reimt sich, aber nicht alles, was sich reimt, ist gut. In dieser Mutter spiegelt sich, wie schon im Grimm’schen Märchen, die Hexe, die sich eher auf Umwegen materialisiert. "Die Hexe ist der Staat, der nicht für seine Kinder sorgt", sagt Becker im Gespräch. Und zwar weder dort, von wo Menschen flüchten müssen. Noch hier, wo sie aufgenommen werden.

Bleib stumm, stell dich dumm

Bei all dem Grauen, das im Verlauf des Stücks angedeutet wird, bleibt der Ton doch märchenhaft: "Ich bin von weit weit her / Ich reiste über das Meer / In einer Nussschale / Die wankte und schwankte / und wie durch ein Wunder / Ihren Weg an ein Ufer fand“, sagt Dina wieder und wieder. Oder auch: "Wenn sie dich fragen / sag nichts / bleib stumm / stell dich dumm." In immer neuen Varianten setzt Dina an, um die oft naiven Fragen der Kinder über ihre Vergangenheit zu beantworten, was auf die vielen Geschichten verweist, die sich in dieser exemplarischen Figur überlagern. Aber auch auf die Fiktion als Überlebenstechnik, sich hinter immer neuen Masken zu verbergen. Einmal erzählt Dina davon, wie manche sich die Fingerkuppen abschleifen, um ihre Identität zu verbergen. Ihr selbst reichen Worte.

Trotz solcher Momente ist "Wildbestand" kein schockierendes Stück. Das Grauen deutet Becker lediglich an, in einem Alptraum etwa, von dem Dina berichtet. Vielmehr legt sie den Fokus auf Hannes und Greta, ihre ignoranten Fragen:

"Greta: Woher hast du Wasser?
Dina: Ich geh zum Bach. Und sammle Regenwasser.
Hannes: Macht man das so, da wo du herkommst?
Dina: Nein, das macht man so, wenn man in einem Baumhaus / im Wald wohnt.“

Schnell wird klar, wie sehr Dinas Leben vor der Flucht dem von Hannes und Greta ähnelte – und nur der Krieg die Ungleichheit schuf. In gewisser Weise sind alle drei auf je eigene Weise entmündigte Kinder. "Mir war es wichtig zu zeigen, dass da nicht zwei Gruppen gegenüberstehen, die und wir, sondern dass wir einfach Glück gehabt haben", sagt Becker. "Wir haben uns das mit nichts verdient."

Unverdientes Glück

So wenig wie unser westliches Schlaraffenland, das ja auch hier nicht allen zugänglich ist. Es gibt kein Knusperhäuschen in "Wildbestand". Stattdessen kommt Hannes zu Beginn aus den Ferien beim Opa zurück, mit neuen Klamotten, Schuhen, Handy, Computer... und Haarwachs.

becker esther vitaEsther Becker 
© Francoise Caraco
Greta hat das alles nicht und erwettet sich zumindest das Telefon. Glücklich macht dieser Krempel nur bedingt, und wenn die Kinder einmal Chips essen müssen, weil nichts anderes da ist, dann erinnert das an den Marie-Antoinette zugeschriebenen Spruch, wer kein Brot habe, solle doch Kuchen essen.

Vor fünf Jahren war Becker schon einmal im Wettbewerb des Heidelberger Stückemarkts, damals mit Supertrumpf, das von der Magersucht eines Mädchens erzählte und was das mit einer Familie macht – aus der Perspektive der kleinen Schwester. Becker versteht es, sich auf Augenhöhe mit ihren Protagonisten zu begeben, ohne sich dabei wohlwollend herabzubeugen oder vom eigenwilligen, knappen Rhythmus abzuweichen, der ihre Sprache so besonders macht. Kurze Sätze, Menschen, die einander ins Wort fallen, die Gedanken des anderen Fortspinnen oder Kontrastieren, Binnenreime – so entwickelt Becker ihren eigenen, hypnotischen Ton, der die vielen Motive eng miteinander verknüpft und dennoch leicht bleibt.

Dass sie immer wieder auch Kinder- und Jugendstücke schreibt, sei keine Absicht, sagt Becker, dass entscheide sich mit dem Stoff und dem Alter der Protagonist*innen. Anders als im Film oder in der Prosa werden im Theater Texte, in denen die Hauptfiguren Kinder sind, immer ins Kinder- und Jugendtheater gesteckt. Was fürs Schreiben auch Vorteile hat: "Kinder sind das härteste Publikum, transparent, ehrlich“, sagt Becker. "Mir ist dabei vor allem wichtig, dass ich keine Anleitung fürs Leben abliefere, keine Infobroschüre."

Jenseits aller Pädagogik

Die Abwesenheit von Didaktik und die Stärke ihrer äußerst genauen Sprache lassen "Wildbestand" denn auch weit aus dem Durchschnitt der Kinder- und Jugenddramatik herausragen. Diesen Text zu lesen ist ein Genuss. Gar nicht so einfach allerdings, sich vorzustellen, wie in diese knappe, dichte Sprache, die so vieles schon sagt, noch eine szenische Verbildlichung passen soll. Klappernde Türen würden diesem Text ganz sicher nicht bekommen, sehr wohl aber spielerische Fantasie. So ist der offene Beginn und das offene Ende – die beide auch an ein Kinderspiel erinnern, daran, wie sich gerade junge Menschen oft eine eigene Welt, ein eigenes Narrativ schaffen – ein Angebot, den Abend aus dem Geist des Stehgreifs zu entwickeln, der Improvisation.

Was vielleicht auch etwas mit Beckers zweitem Standbein zu tun hat. Vor dem Studium am Deutschen Literaturinstitut machte sie eine Schauspielausbildung. Als Teil der freien Theaterformation bigNOTWENDIGKEIT ist sie immer mal wieder auch als Performerin zu sehen: "The Bitter End" heißt die neue Produktion, die im Oktober im Ballhaus Ost Premiere haben wird.

Das Ende von "Wildbestand" bleibt in der Schwebe, besitzt aber doch einen ehrlichen, leicht pessimistischen Ton. Ein Gesprächsangebot – und vielleicht auch die Aufforderung, etwas dafür zu tun, dass Dina im Wald unserer westlichen Zivilisation nicht untergeht.

 

Lesung von "Wildbestand" am ersten Tag des Autorenwettbewerbs, Samstag 21. April 2018, um 14.30 Uhr im Alten Saal