Geister der Geschichte

von Elena Philipp

April 2018. Untrennbar verbunden sind sie, auf eine fast perverse Weise: Ursula und die Mitglieder ihrer Familie – Bruder Wolfgang, die Kinder Frank und Elise, Enkelin Franziska und ein Haufen verdrängter Traumata. Ursula, Protagonistin in Sören Hornungs "Sieben Geister", ist soeben gestorben und dennoch äußerst präsent. Ihre nicht aufgearbeitete Vergangenheit hemmt die Entwicklung der Nachgeborenen, bis zum Stillstand fast. Gefrorene Zeit und Wiederholungszwang: Drei Generationen und gut achtzig Jahre deutscher Geschichte nimmt sich der im Wendejahr 1989 geborene Autor, Regisseur und Kollektiv-Eins-Performer Sören Hornung vor. Ein Kriegskind ist Ursula, wie die Erzählerin im Prolog verrät. Kartoffelfußball spielt sie mit ihrem Bruder Wolfgang auf dem Feld, als eine Armada Autos an ihnen vorbei zum Elternhaus fährt. Russen, die mit Kriegsende in jeder Straße des Dorfes ein Parteimitglied ausfindig machen sollen.

Rau bis brutal ist der familiäre Umgangston

Im Text blitzen hier gleich zu Beginn brutale Bilder auf: Der Vater im Wagen, zwei Männer in russischer Uniform, die auf die Kinder zugehen, der eine hat ein Messer in der Hand. Bevor es Ernst wird – ein Schnitt: "Doch von all dem ist auf unserer Bühne nichts zu sehen. Unsere Bühne ist leer." Der Text wird Symptom der Verdrängung: Verinnerlicht hat die Erzählerin, sie ist vielleicht Ursula, die eisernen Mechanismen der Nichtbewältigung. Geweint wird nicht in dieser Familie. Unliebsames wird weggedrückt. Ursulas Vater ein Nazi, wohl von den Russen getötet; sie selbst von einem Rotarmisten vergewaltigt? Weg damit. "Erinnern heißt vergessen!", lautet das durch alle Generationen wiederholte Familienmotto. Auch wenn aus der Vergewaltigung ein Kind hervorging: Elise, die, wie alle Anverwandten, die Bürde ihrer Ahnen tragen wird.

Erzähleinschübe und Beiseite-Monologe brechen die Einheit von Zeit und Ort auf. Eigentlich aber spielt "Sieben Geister" zum Zeitpunkt von Ursulas Beerdigung. Gestorben ist sie als alte Frau, zu Hause aufopfernd gepflegt von ihrer Tochter. Ihr Tod ist Anlass für ein Treffen der entfremdeten Familie. Wolfgang, Ursulas jüngerer Bruder, hat Ausgang aus dem Pflegeheim. Ursulas Sohn Frank kommt zur Beerdigung, mit seiner Tochter Franziska. Von Beginn an wirkt er aufgeputscht, wäre wohl lieber nicht in seinem Elternhaus: "Scheißwetter ist das. Hat die Alte sich bestimmt gewünscht!"

hornung soeren vitaSören Hornung © Stefan MalzhornRau bis brutal ist der familiäre Umgangston: "Einfach mal die Fresse halten, Frank!", entgegnet ihm Elise. Wolfgang wirkt weggetreten, er trägt Uniform und wähnt sich im (gerechten Verteidigungs-)Krieg. "Warum führen wir diesen Krieg, Soldat?", fragt er seinen Neffen Frank, ohne ihn zu erkennen. "Wir führen ihn, weil wir die Welt zu einem besseren Planeten machen wollen! … Wir führen ihn, weil wir wissen, dass wir es verdient haben zu leben!" Fleht er im einen Moment: "Ich will nicht sterben!" und "verstecken Sie mich", fragt er Frank im nächsten Moment wie ein bemühter Gastgeber, ob er schon etwas gegessen habe – ganz als habe er nicht eben seine eigene Apokalypse ausagiert.

Multipel sind die psychischen Problemlagen in "Sieben Geister", denkt man beim Lesen des schmalen Theatertexts, der mit dem Chemnitzer Theaterpreis für junge Dramatik 2018 ausgezeichnet wurde. Völlig in sich verkapselt ist Wolfgang. Frank und Elise hingegen ringen mit dem Alltag und neuen, eigenen Problemen. Elise hat ihr Leben aufgegeben, um die Mutter zu pflegen, weil die "so viel erlitten" habe; doch wer die Mutter war, was sie beschäftigte, das weiß sie nicht. Frank wiederum war bei der Stasi und redet sich die DDR in Glanz und Gloria. Dabei hat er als Kind, ins Indianerspiel vertieft, mit seiner Freundin Bettina die Grenze übertreten – und miterlebt, wie das Mädchen von Grenzern erschossen wurde.

Erinnern heißt vergessen

Aber das hat Frank vergessen, denn auch er ist bewandert in der familiären Fähigkeit der Totalverdrängung. Brodeln tut es aber doch. In einem besoffenen Monolog mit Heiner-Müller-Anklängen beschimpft er beim Essen die Versammelten: "Ihr alle – widert mich an. Eure Heuchelei. Ich war tot, bevor du mich ins Leben erbrachst, MUTTER. … Du erstickst mich, damit du atmen kannst. Und dafür soll ich dich lieben? Für dich lieben? - Ab dem heutigen Tag entscheide ich mich, nicht mehr zu atmen!" Geschichtsgeschädigte allenthalben.

Einzig Franziska läuft noch nicht ganz auf der vorgeprägten Spur. Wie an einem Phantomschmerz leidet sie unter dem Verdrängten – teenagerhaft, dramatisch, larmoyant: "Ich habe ja auch mein Päckchen zu tragen! Ja! Mir geht es auch nicht gut! Ich bin auch am Ende!" Rasch zwei Pillen eingeschmissen und weiter geht’s im Monolog. Franziska träumt vom Fußballspielen mit Kartoffel und malt ständig Hakenkreuze. Reflexhaft fordern Frank und Elise sie auf, diese zu harmlosen Fenstern umzugestalten. Dann wird sie wie ein kleines Mädchen von der Tante gelobt: "Sehr gut, Franziska! Das hast du sehr gut gemacht! Und jetzt wisch’ es weg! Aus den Augen, aus dem Sinn!" Und doch fragt Franziska immer wieder, was denn passiert sei mit den Anverwandten. "Sag mal Wolfi, auf einer Skala von eins bis zehn – zehn für richtig scheiße und eins für richtig geil: wie war denn das damals im Krieg?" Wolfi taut an: "Es hat uns nicht geschadet", meint er, erzählt vom heimlichen Weinen als Bub, bis die Mutter ihn entdeckte. Doch als es konkret wird – "Was hat sie dann gemacht?", fragt Franziska –, taucht er wieder ab. "Du bist ein gutes Mädchen!", versiegelt er mit einem unspezifischen Kompliment erneut die Oberfläche der Erinnerung. Erinnern heißt vergessen… Ausfällig wird Franziska und mit ihr tobt hier auch der Text an den Grenzen des guten Geschmacks: "Ich könnte kotzen, wenn ich euch sehe! Dass ihr euch ‚Deutsche’ nennt... Ihr seid eine Schande…".

Doch als man denkt, jetzt sei alles völlig entgleist, hält Sören Hornung als fürsorglicher Autor eine Katharsis bereit für seine Figuren. Umgeschrieben wird eine oder vielleicht die (Familien-)Geschichte – das Märchen vom "Wolf und den sieben Geißlein", die einzige Fiktion, die Ursula als Kind kannte. Erzählt hat sie ihr älterer Bruder Jürgen, bevor er in den Krieg zog und nicht wiederkam. Der Wolf mit der weißen Pfote, das Alleingelassensein verbinden sich mit Ursulas traumatischen Erlebnissen – der Vergewaltigung, dem Verschwinden des Vaters, der Härte der Mutter. Als Erzählerin spukt Ursula unerlöst durch ihr Haus und den Text, wahrgenommen allein von Franziska, die nun endlich von den Traumata erfährt: Von einer Narbe berichtet die Erzählerin. Auf Ursulas Oberschenkel haben die beiden Rotarmisten des Prologs ein Hakenkreuz eingeritzt, das sie selbst später mit einem Messer zum scheinbar unverfänglichen "Fenster" ergänzt hat. Geschichte wiederholt sich – freudianisch verschoben in eine Zwangshandlung der Enkelin.

Heilung ist möglich

Franziska, der Jüngsten und der Hoffnungsträgerin, gelingt das Aufbrechen des Festvermauerten: Eben will die Erzählerin im Epilog das Märchen von den Sieben Geißlein wiederholen, als Franziska sie unterbricht – mit einer Umarmung, einem verständnisvollen Zugewandtsein und einem Verzeihen. "Ich vergebe dir, Oma. Vergeben und Vergessen! Kann ja mal passieren so eine Lebenslüge." Die Forderung der Nachgeborenen: keine Märchen mehr zu erzählen, sich nicht mehr als Opfer zu stilisieren, sondern sich mit allen Schuldgefühlen zu offenbaren, sonst "wird sich hier gar nichts ändern".

Und Franziska erzählt neu, von den sieben "Geistlein", die, alleingelassen, weinend, ihre nach langer Abwesenheit veränderte Mutter trotz Angst ins Haus einlassen. "Ihre Mutter war ein Wolf, eine Geis und ein Geist zugleich. Die Geistlein wussten nicht, ob sie sie lieben oder hassen sollten. Sie öffneten ihr die Tür und sagten: Lieber Geis-Wolf-Geist, das erste Mal sehen wir dich, wie du wirklich bist! Wir wissen nicht, ob du den Wolf verschluckt hast, oder ob der Wolf dich verschluckt hat. Du bist wirklich sehr hässlich und es tut weh dich anzugucken, aber jetzt, wo wir dich in all deinen Facetten sehen, ist es uns auch endlich möglich, uns zu erkennen."

Drei Ansätze zu einem Epilog braucht es, dann ist die Lektion gelernt: Frank gesteht Franziska, dass er bei der Stasi war. Die sieht ihn nicht, wie befürchtet, als Monster – sondern kocht einen Kaffee. Und dann wird geredet. Denn eine Familie ist untrennbar verbunden. Und Heilung, das vermittelt Sören Hornungs "Sieben Geister" optimistisch, ist auch nach Jahrzehnten möglich.

 

Lesung von "Sieben Geister" am ersten Tag des Autorenwettbewerbs, 21. April 2018 um 13.30 Uhr, Alter Saal