Nicht mal Ich sagen

von Michael Wolf

April 2018. Politiker haben eine neue Schere in unserer Gesellschaft entdeckt. Es ist nicht die alte, von ständiger Benutzung in Talkshows schon ganz stumpfe Schere zwischen Arm und Reich. Es ist die Schere zwischen urbanem Raum und der Provinz. Auf der einen Seite: junge, liberale Radfahrer, fortschrittliche Gewinner der Globalisierung in überteuertem Wohnraum. Auf der anderen Seite: eher konservative Autofahrer ohne Glasfaser-Anschluss, ausreichende Versorgung mit Ärzten und Kulturgütern.

Glück findet immer woanders statt

In diesem Sujet siedelt Ulrike Syha ihre Geschichte an: ein Landstrich an der norddeutschen Küste, der davon lebt, Städter zu verschrecken. Angelockt vom Idyll kaufen die sich vor Ort ein Grundstück, um sich schon bald vom Gestank der nahen Kläranlage in die Flucht schlagen zu lassen. Man hat sich eingerichtet in der Isolation. Mehr Provinz geht nicht. Hier sind alle miteinander bekannt, wenn nicht gar verwandt oder schon wieder voneinander geschieden. So auch der Architekt Friedrich: In der Kneipe erzählt er immer wieder seine Geschichte. Wie er – eigentlich nur auf Geschäftsreise – hängen blieb, die erste Frau heiratete, die jetzt tot ist, mit der zweiten ein Haus baute, das ins Meer zu stürzen droht und die dritte eines Tages verschwand.

syha ulrike vitaUlrike Syha © Christian KleinerNun ist sie zurück und klappert ihre Familie und Freunde ab, die dritte Frau, diese "Frau, die eigentlich nicht da sein sollte", wie sie bei Syha heißt. Ein sprechender Name nicht nur, sondern auch einer, der die Wahrheit spricht. Wer aus diesem Küstenstädtchen entkommen konnte, sollte nicht zurückkommen. Mit lakonisch-friesischem Witz erzählen die Figuren von den verpassten Gelegenheiten und einem Leben, in dem es nicht um Glück gehen kann, weil das immer woanders stattfindet.

Da wären drei ältere Damen, auch "Die Mitte der Gesellschaft" genannt, die sich schrecklich davor fürchten, dass Flüchtlinge über das Meer kommen und ihre Stadt einnehmen. Zur Ablenkung vor diesem Horror potenzieren sie ihn selbst mit dem Mitteln des Tratsches. Sie versuchen Friedrich einen Mord anzuhängen. Da wäre Friedrichs Sohn: ein Teenager, der so voll Foucault und der Ablehnung der Welt ist, dass er nicht mal Ich sagen kann und in der dritten Person von sich selbst spricht: "Namen gaukeln eine Individualität vor, die es in Wahrheit gar nicht gibt. Sie dienen lediglich der Optimierung staatlicher Kontrollprozesse." Da wäre ein Informatiker, der seinem betagten Vater nicht erzählen kann, dass er schwul ist. Der im Internet Hotelbewertungen schreibt, um wenigstens virtuell mal rauszukommen. Und der die Kaninchenzucht des Vaters allein deshalb weiterbetreibt, um sicherzustellen, dass sein Selbsthass auch nach dessen Tod intakt bleibt.

Isolation hat ihren Preis

Wer sich länger in einem solchen Städtchen aufhält, wird ähnlichen Menschen begegnen. Aber Syhas Figuren sind der Wirklichkeit nicht abgeschaut, eher hat sie sie ihr entrissen. Ihr Dorfleben liegt näher an David Lynchs Twin Peaks als an Marienthal. Denn unter dem Realismus zerbrochener Wünsche liegen surrealistische Alpträume begraben. Theater ist der Ort, an dem Widersprüche aufeinanderprallen. Hier ist es die Unvereinbarkeit der Abgeschiedenheit in einer vernetzten, globalisierten Welt. Die Gegenwart lässt sich nicht ausschließen. Jenseits des Ortsausgangsschildes liegt beides: Sehnsuchtsort und Horror. Immer schneller, wie ein Tsunami, nähert sich die Bedrohung.

Längst erodiert nicht nur die Küste. Eine apokalyptische Atmosphäre liegt dem Text zugrunde. Einige Provinzler spüren die Katastrophe, sie fühlen, wie der Boden unter ihnen wegbricht. Die Signale sind eindeutig: Die Fledermäuse stürzen sich selbstmörderisch gegen den Leuchtturm, die leicht verrückte Claire verspürt ständig einen Zug – womöglich ist es aber auch schon der nahende Sturm. Und Architekt Friedrich predigt zu den Wellen, auf dass sie das Haus an der Klippe verschonen. Vergeblich. Die Isolation hat ihren Preis. Das Städtchen wurde nur so lange von der großen weiten Welt verschont, wie es dachte, sie ausschließen zu können. Ein unmögliches Unterfangen. "Drift" heißt das Stück und damit ist nicht nur die Erosion der Küste gemeint. Es ist die Provinz selbst, die es in den Untergang zieht. Sie kann nicht mithalten mit der immer schnelleren Entwicklung um sie herum. Unsere moderne Welt duldet keinen abgeschlossenen Mikrokosmos.

Syha hat ihren Figuren nicht nur ihren jeweils eigenen Witz verliehen, sie hat sich auch einen 'running gag' erlaubt. Immer wieder kommen Jogger vor den Fenstern der Dorfkneipe vorbei. In einer Bemerkung zum Personal des Stücks schreibt sie, dass einige Figuren auch nur im Video auftreten dürften. Die Jogger jedoch müssten unbedingt live auf der Bühne stehen. "Sportler haben ein ungebrochenes Verhältnis zur Realität und sind immer ganz bei sich." Wenn sie nun also an den Figuren vorbeilaufen, stockt die Szene und alle anderen Figuren schauen ihnen "andächtig“ hinterher. Es ist diese Einheit, dieses ungebrochene Sein, das den Figuren fehlt und das ihr komisches und tragisches Potenzial ausmacht. Zu tief haben sich die Widersprüche unserer Zeit in sie gegraben. So treten sie auf der Stelle am Rande der Gegenwart und erliegen der Fliehkraft einer Welt, die sich beständig weiterdreht. Ihr einziger Fluchtweg ist der Abgrund.

 

Lesung von "Drift" am zweiten Tag des Autorenwettbewerbs, Sonntag 22. April 2018 um 13.30 Uhr, Alter Saal