Man kann den Erwachsenen nicht trauen

von Sophie Diesselhorst

April 2018. Geschichten, in denen sich ein junger Mensch radikalisiert, sind in den letzten Jahren zunehmend auf mediale Bildflächen gerückt. Ob der Drift nach rechts geht oder in den Dschihad: Solche Geschichten sind in der Regel auch spannend. Für ein Jugendtheater, das sich an die Lebenswelt eines jungen Publikums pirschen und dieses Publikum gleichzeitig mitreißen will, eine Win-Win-Situation?

Zu den JugendStücken des Heidelberger Stückemarkts 2018 sind "Mongos" von Sergej Gößner, "Das Heimatkleid" von Kirsten Fuchs und "Zucken" von Sasha Marianna Salzmann eingeladen, und die letzten beiden Stücke erkunden Radikalisierungsgeschichten – mit sehr unterschiedlichem Ausgang: Während es für die Protagonistin von "Das Heimatkleid" beim kurzen Flirt mit rechtsextremem Angsthass bleibt, bestärken die Figuren von "Zucken" einander in einer Sehnsucht nach Klarheit, die von (unterschiedlichen) radikalen politischen, ja kriegerischen Positionen besser aufgefangen wird als von Eltern, die glauben, "man kann alles mit Reden lösen".

Kollektive Unzufriedenheit: Sasha Marianna Salzmanns "Zucken"

Zu der Allergie ihres Personals gegen erwachsene Erklärbär-Redundanz passt es, dass Salzmann das Stück für Sebastian Nüblings Uraufführung um fast die Hälfte gekürzt hat. Mit den Smartphones stets parat steigern die sieben jugendlichen Darsteller*innen des Jungen Theaters Basel sich auf eigenen, den Erwachsenen schwerer zugänglichen Kommunikationswegen in eine kollektive Unzufriedenheit.

zucken2 250 junges theater basel u"Zucken" von Sasha Marianna Salzmann
© Junges Theater Basel
Ironie als Komplexitätskompensator ist out, gleich in der ersten Szene werden auf WhatsApp die Smileys abgeschafft. "Menschen gewöhnen sich zu sehr daran ihre Gefühle in dummen gelben Kreisen auszudrücken. Sie sagen nicht, was sie sagen wollen oder sie reden Quatsch und dann ist es wieder okay, weil ein debiles Gesicht dahinter hängt", schreibt einer der beiden, deren Chatverlauf wir lesen/vorgelesen bekommen. Er ist Krieger in einem unbestimmten Dschihad weit weg vom westlichen Wohlstand, in dem seine Chat-Partnerin "mit nichts und niemandem" etwas zu tun haben will, am wenigsten mit ihrer Mutter, "egal, die soll sterben".

An ihm gefällt ihr, "dass du nie sagst, kommt drauf an oder irgendwas. Du sagst immer ja oder nein". Sie will zu ihm hin – und weg aus einer Gesellschaft, in der sie keinen Platz zu haben meint. Salzmann lässt in der Person des Mädchens die emotionale Obsession der sich Verliebenden und ihre politische Radikalisierung Schatten aufeinander werfen, bis sie nicht mehr zu unterscheiden sind.

Eingefasst wird diese Fallstudie von den Ausbrüchen eines anonymen jugendlichen "Wir", das sich im Lauf des Stücks mit weiteren Einzelgeschichten abwechselt und immer lauter wird. Es mündet in eine Total-Absage an die Elterngeneration und alle, die ihren geheuchelten Idealen folgen: "Die Straßen tragen jetzt unsere Namen. Die Winde erzählen jetzt unsere Geschichte. Und endlich können wir atmen. All eure Tränen brauchen wir nicht. Wir brauchen euch nicht."

Gift im Haus: Kirsten Fuchs' "Das Heimatkleid"

Angst ist in "Zucken" für die anderen oder wird automatisch in Wut transformiert. Auch in Kirsten Fuchs' "Das Heimatkleid" gibt es so einen Transformationsmoment, als Fashionbloggerin Claire sich für eine kurze Szene in den falschen Wahn hineingeifert, der neue syrische Nachbar Al Sayed habe Heimatkleid 02 250 Joerg Metzner uKatja Hiller in "Das Heimatkleid" am Grips
© Jörg Metzner
den Hund ihrer Schwester vergiftet. In Wirklichkeit hat sie selbst vergessen dem Hund seine Medikamente zu geben. Für diese schamvolle Entdeckung der Wahrheit interessiert der attraktive Nachbar Tom sich jedoch keinen Deut. Er hat ihr die Vergiftungs-Idee eingegeben, nachdem er mit einem Werbe-Luftballon der "DH" (=AfD) bei ihr vorstellig geworden ist ("Ein Mann, der Luftballons bei sich hat. Süß irgendwie") und sie damit beeindruckt hat, dass er politische Überzeugungen hat, der Inhalt dieser Überzeugungen war für sie erst einmal zweitrangig.

Wie in "Zucken" gehen also auch hier erotische Versuchung und Radikalisierung eine unheilige Allianz ein, aber für Claire bleibt es beim kurzen hysterischen Anfall, der sie gleichwohl beeindruckt davon hinterlässt, was für eine machtvolle Wut die Angst vorm Ungekannten freisetzen kann. In ihrer neu keimenden Überzeugung, dass die eigentliche Vergiftungsgefahr von Toms politischen Überzeugungen ausgeht, stabilisiert sie eine heterogene Hausgemeinschaft: Eine Zahlungsaufforderung durch die Hausverwaltung droht diese Gemeinschaft zu spalten, sie findet sich aber dann solidarisch zusammen. In Tim Egloffs Uraufführung am Berliner Grips-Theater erzählt Katja Hiller als Claire die Geschichte monologisch vom sicheren Ende her.

Ode an die Jungs-Freundschaft: Sergej Gößners "Mongos"

Eine Selbsterkundung im Loop hat auch Sergej Gößner als Form für sein Stück "Mongos" gewählt, das bereits 2016 im Autoren-Wettbewerb zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen war und nun in Grit Lukas' Uraufführung vom Theater Magdeburg nach Heidelberg zurückkehrt. Gößner geht es mit zwei Erzählern formal etwas raffinierter an und löst erst zum Schluss auf, dass nur einer der beiden real ist, weil er alleine übrig geblieben ist. Das ist der querschnittsgelähmte Ikarus, der die Geschichte aufblättert und zuklappt mit einem Text von Francis, mit dem er eine Zeit in der Reha-Klinik verbracht hat und der jetzt nach einem weiteren Multiple Sklerose-Schub im Koma liegt. "Mongos" ist eine Ode an die Jungs-Freundschaft, die in der Reha-Zeit entstanden ist – die Klinik und die Krankheiten funktionieren hier als "Safe Space".

Mongos 01 250 Nilz Boehme uAlexander von Säbel und Philipp Quest in "Mongos" © Nilz Böhme Denn Gößners Stück fällt als zeitlose Pubertäts-Erkundung (keine Spur von politischer Radikalisierung) nicht nur thematisch aus der Reihe der diesjährigen JugendStücke Einladungen, sondern auch atmosphärisch: Es setzt auf Intimität, die hier etwas sicheres, schönes, erstrebenswertes ist, keine Gegen-, sondern eine Hin-Welt. Die freundschaftliche Intimität von Ikarus (Daniel Klausner) und Francis (Cem Göktas) drückt sich aus in Gesprächen, die mit Überschwang in politische Inkorrektheiten münden, eben von "Mongos", von "Behindis" ist die Rede, Frauen sieht Ikarus als "reine Mumu auf zwei Beinen".

Francis, "der Poet, der Dichter, der überaus kluge Francis" ist vorsichtiger, auch sprachbewusster. Aber er stellt sich nicht über den impulsiven Ikarus, sondern ist bereit sich mit ihm zu streiten und wird eifersüchtig, als Ikarus sich "so richtig verknallt" in Jasmin. Dass sie wie auch Klinikpsychologe "Psycho" per Regieanweisung vom gleichen Schauspieler gespielt wird wie Francis, soll vielleicht schon andeuten, dass die Geschichte eigentlich nur aus einem, Ikarus' Kopf kommt. Man kann es aber auch als Hinweis auf Francis' Gendertrouble lesen, der sich nicht sicher ist, ob er vielleicht schwul ist. "Mongos" versammelt im von innen erleuchteten Zelt der Francis-Ikarus-Intimsphäre viele Themen, die sich alle ihren Platz suchen dürfen und deshalb nicht zur Haupterzählung werden müssen.

Keine Experimente

Das Programm des letzten großen (Kinder- und) Jugendtheater-Festivals Augenblick Mal! im Frühjahr 2017 in Berlin war von postdramatischen Formen geprägt, und in den letzten Jahren war auch nach Heidelberg immer mindestens eine Performance zu den JugendStücken eingeladen. Dieses Jahr sind es also drei Produktionen, die auf Stücktexten basieren. Mit Sprache gehen alle drei aber nicht besonders experimentell um.

In "Mongos" wird sie immerhin als emanzipatorisches Tool hergezeigt, wenn Francis sein Innerstes in einen Stapel poetischer Texte entladen hat, die er in seiner Nachttischschublade für Ikarus hinterlässt und die dieser hier und da in seine Erzählung ihrer Freundschaft einspeist um sie ästhetisch anzureichern. In "Zucken" und "Das Heimatkleid" blitzen immer wieder schöne Sprachbilder auf, die bei "Zucken" dazu da sind Lust auf den aktionistischen Drive des Texts zu machen. Bei "Das Heimatkleid" veredeln sie die flatterhafte, in manchen Momenten allzu naiv daherkommende Erzählerin Claire in Richtung geistreich: "Ich kam mir immer mehr vor wie ein Stück Obst im Supermarkt und dieser Tag kam rein und betastete mich überall, machte mir Druckstellen und ich wurde immer matschiger."

Zeit für Optimismus

Aber grundsätzlich liegt der Akzent dieser JugendStücke-Auswahl eher auf der Suche nach Verständigungsmöglichkeiten in einer unübersichtlichen, als überkomplex empfundenen Welt sowie der klaren Artikulation einer eigenen jugendlichen Perspektive aufs Leben und seine Möglichkeiten. Dabei werden, wenn bei "Zucken" gechattet und in "Das Heimatkleid" geyoutubet wird, die "neuen" Kommunikationswege der digital natives nicht ausgestellt, kulturpessimistisch der narzisstischen Selbstdarstellung verdächtigt, sondern ganz selbstverständlich in realistische Szenarien eingewoben.

Realistische Szenarien, die im Endeffekt alle drei optimistisch sind: "Mongos" glaubt an die Freundschaft, "Das Heimatkleid" an die Solidargemeinschaft wider den Hass – und auch wenn "Zucken" kurz vor Schluss die Erwachsenen abschafft, klingt diese Aggression in die friedliche Vision einer Welt aus, um die "wir" uns gemeinsam (besser) kümmern wollen – ganz im Geiste der Marches for our lives gegen die Waffenlobby, in denen sich in den USA zur Zeit eine jugendliche Bürgerrechtsbewegung formiert.

Wie realistisch dieser Optimismus ist, oder ob er – wie vielleicht auch schon der Radikalisierungs-Fokus – vor allem der heimlichen Angst erwachsener Stückeschreiber*innen, Regisseur*innen, Dramaturg*innen vor einem Kontaktverlust entstammt, wie "Zucken" ihn, zumal mit jugendlichen Darsteller*innen, dick ausbuchstabiert – zu dieser Frage positioniert sich ja vielleicht die jugendliche JugendStücke-Jury in ihrer Preis-Entscheidung.

 

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