Zurück aufs Kinderfahrrad

von Michael Wolf

Heidelberg, 25. April 2018. Eine Greisin hält ihren Rock mit ausgestrecktem Arm von sich. Die Augen weit aufgerissen, erkennt sie den Kot auf dem feinen, weißen Stoff. "Grausam", sagt sie. Die kleine Szene wiederholt sich mehrmals. "Grausam", immer wieder dieses Wort: "Grausam."

Den anderen Alten geht es auch nicht besser. Sie sind im Pflegeheim gelandet, um dort auf den Tod zu warten. Auf einem Karussell drehen sich die sechs Spieler im Kreis. Sie stecken in plüschigen Fatsuits, Geschlechtsteile hängen welk und nutzlos herab. Sie brabbeln vor sich hin, scheitern an einfachsten Gedanken, revoltieren kurz gegen die Heimleitung, haben aber keine Chance. Der sadistische Pfleger stellt nachts die Rollatoren so ein, dass sie sich noch tiefer bücken müssen beim Gehen: "ihr sollt mir doch keinen Blick mehr schenken können auf Augenhöhe, das ist schon lange vorbei!"

Schwindendes Recht auf Individualität

Wie von Katja Brunner gewohnt, ist "Geister sind auch nur Menschen" kein Konversationsstück, sondern eine Textfläche. Das ist nur konsequent: Die Alten haben ihr Recht auf Individualität verwirkt, sie sind keine Personen mehr, sondern nur noch Biomasse. Auch für psychologisches Spiel taugen sie nicht, weil ihre verwirrten Seelen schon ganz schief im Körper stecken.

Brunner imitiert die gnadenlose Haltung der Gesellschaft. Ihr Blick ist analytisch, sie taxiert die Alten und stellt ihre Wertlosigkeit fest. Das wirkt in Claudia Bauers Leipziger Inszenierung zunächst schlicht mitleidlos, höhnisch sogar. Zombies stehen da auf der Bühne, kaum noch zu einem klaren Gedanken fähig, geschweige denn ihre Körperausscheidungen zu kontrollieren. Aber genau um diese Kontrolle geht es Brunner.

GeistersindauchnurMenschen1 700 Rolf Arnold uWas geschieht, wenn wir die Körper nicht mehr kontrollieren? Ausgestellte Körperlichkeit, senile Kindlichkeit in "Geister sind
auch nur Menschen" © Rolf Arnold

Ab der Geburt sind wir angehalten, unsere Körper zu disziplinieren. Erst dann sind wir akzeptierte Mitglieder der Gesellschaft, wenn wir eine Toilette benutzen, ordentlich sitzen und mit Messer und Gabel umgehen können. Brunners Text prangert die unsichtbaren Strukturen an, denen wir ein Leben lang unterliegen und dessen Macht die meisten von uns eines Tages zu spüren bekommen. Wenn wir den anderen nur noch als schlechtes Beispiel gelten können, als Gefahr, als Sabbernde, als Skandalon, als Sterbende. An diesen Tag werden sie uns verstoßen.

Aufbegehren bis zuletzt

Ein harter Stoff und eine Herausforderung für die Regie. Claudia Bauer nähert sich dem Text musikalisch. Dafür ist sie bekannt. Die Regisseurin inszeniert ihre Stoffe häufig nicht, sondern orchestriert sie. Ihr Ensemble müht sich anfangs mit Brunners fein gearbeiteter Sprache, aber schon bald findet es in den arthritischen Rhythmus des Heimalltags. In chorischen Passagen, mit sorgsam arrangiertem Geplapper und vor allem exakt gesetzten Pausen steuern sie gezielt das Tempo und halten die Energie hoch.

Und am Ende des Stücks, malen sie sogar etwas Hoffnung auf die klinische weiße Bühne. "Jetzt lassen Sie mich doch in einer Ruhe zu meiner Kindhaftigkeit zurückfinden, ich möchte doch einfach nur mich selbst als Kind gelten lassen können dürfen, wie ich eines bin und seit jeher war", heißt es an einer Stelle. Als letztes Bild sehen wir eine senile Alte auf einem Kinderfahrrad. Brunner zeigt das Altern als Guerillakampf gegen die Gesellschaft, die Bettpfanne als Tellermine. Selbst der Tod ist bei ihr ein Akt der Dissidenz. Wenn wir aufhören zu sein, wird man uns endlich in Ruhe lassen. Erst dann sind wir raus, sind wir für immer frei.

Geister sind auch nur Menschen
von Katja Brunner
Regie: Claudia Bauer, Bühne und Kostüme: Andreas Auerbach, Musik: Smoking Joe, Dramaturgie: Katja Herlemann.
Mit: Andreas Dyszewski, Timo Fakhravar, Julia Preuß, Marie Rathscheck, Katharina Schmidt, Florian Steffens.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-leipzig.de

 

Kommentar schreiben

Sicherheitscode
Aktualisieren