Scripted Reality Girl

von Georg Kasch

Heidelberg, 26. April 2018. Es gibt Sätze, die wirken auf den ersten Blick harmlos. "Meine ganze Kindheit war ein Treppenhaus aus Ritualen" ist so einer. Oder: "Nichts kann für ein Kind erklärungsbedürftiger sein als das Verhalten seiner Eltern." Martina sagt das, als Erwachsene, in der Gegenwart. Sätze, die viele Menschen sagen könnten, die eher autoritär erzogen wurden. Allerdings ist Martina ein besonderer Fall: Ihre Kindheit wird ohne ihr Wissen als Reality TV mitgefilmt, geschnitten, ediert und an die zahlende Kundschaft weitergeleitet.

Quälen für mehr Klicks

Am Ende von Clemens J. Setz dramatischen Debüt "Vereinte Nationen" hat Martinas Familie ein Haus mit Garten. Thea Hoffmann-Axthelm, die auch für die Mannheimer Uraufführung die Bühne baute, damals noch einen kamerabesetzen Glaskasten, holt für die Wiener Nachinszenierung Naturzitate auf die Bühne: Begrenzt von einem azurnen, schäfchenbewölkten Rundhorizont stehen paradiesische Kulissenteile überm blau funkelnden PVC-Boden in Wasseroptik. Eine künstliche Welt, in die einmal ein Scheinwerfer kracht.

Wer sich an den thematisch verwandten Hollywood-Film "The Truman Show" erinnert fühlt, liegt richtig. Dass die Schauspieler in quietschbunten Adidas-Anzügen stecken, dürfte am Product Placement liegen, schließlich macht Martinas Familie das mit dem Mitfilmen ja nicht zum Spaß, sondern zum Geldverdienen!

Vereinte Nationen1 700 Robert Polster u"You can brush my hair, undress me everywhere" - Sampling aus dem Aqua-Popkracher in den Remington-Föhn gesäuselt im azurblauen Bühnenbild © Robert Polster

Dazu hat Robert Hartmann aus dem Aqua-Popkracher "Barbie Girl" Akkorde isoliert und sie zu einem gläsernen, klebrig-melancholischen Soundtrack verwoben. Den Song mit seinem sexualisierten Subtext singen die Schauspieler in Holle Münsters Wiener Inszenierung auch live: "You can brush my hair, undress me everywhere / Imagination, life is your creation“. Entsprechend staunt Nélida Martinez' Martina aus riesig geschminkten Manga-Augen, ein reizendes Püppchen, das für die Klicks mit autoritären Erziehungsmethoden gequält wird.

Wünsche zahlender Kundschaft

Wenn sich ihr Vater Anton in einen Psycho-Sadismusfuror steigert, weil Martina mit Essen geworfen hat, vermischen sich das Aufessgebot und die Ermahnung, wie gut es uns doch geht, mit einer für Kinder völlig untauglichen Argumentation: "Den Ton kannst du vor den Vereinten Nationen anschlagen, aber nicht bei mir." Eine Formulierung, die zum Abo-Hit wird. Muss man erwähnen, dass Martina gar nichts sagt, weil sie noch an einem Riesenlöffel blutroter Beeren herumwürgt?

Vereinte Nationen2 700 Robert Polster uAlle in Sportkleidung? Klar, Productplacement, schließlich geht es hier ums Geldverdienen: Emilia Rupperti, Anton Widauer in "Vereinte Nationen" © Robert Polster

Schauspieler Philipp Auer, wie die anderen Student am Wiener Max-Reinhardt-Seminar, ist da von einer zähen Unerbittlichkeit, als besöffe er sich an seinen Worten. Doch dann beginnt seine Fassade zu bröckeln, wenn er versucht, ihr gemeinsames Handeln zu verteidigen: "Ob man jetzt mitfilmt oder nicht, das spielt letzten Endes keine so große Rolle. Sie hat ja dieselbe Kindheit, ich meine, sie wird nicht misshandelt oder so.“ Das Gegenteil ist der Fall. Setz deutet zudem eine ziemlich schmierige Kundschaft an – und Münster spielt das aus, wenn Antons Freund und Produzent Oskar ihr nachschleicht (Anton Widauers jungenhaft-cooler Macher bekommt dann immer so etwas unangenehm Sehnsüchtiges).

Mediales Dauer-Posing

Was macht mit einem Menschen, dass er sein Leben jederzeit auf Youtube nachverfolgen kann? Münster betont diesen Setz-Gedanken, indem sie Martina immer wieder aus der Handlung aussteigen lässt und mit Befehlen wie Play, Rewind, Repeat und Mute Sequenzen wiederholt, vor- oder zurückspult, verstummen lässt. Insbesondere dann, wenn sich Anton und seine Frau Karin, die bei Clara Schulze-Wegener leichtfüßig zwischen liebevoller Mutter und Lady Macbeth pendelt, mal wieder in die Haare kriegen – Momente, in denen kurz die Möglichkeit aufscheint, der Horror könnte ein Ende finden. Aber es hört nicht auf: Anton wird seine Empathie schließlich nicht bei seiner Tochter, sondern bei einer taumelnden Hummel los.

Vereinte Nationen
von Clemens J. Setz
Regie: Holle Münster (Prinzip Gonzo), Künstlerische Mitarbeit: Alida Breitag (Prinzip Gonzo), Bühne und Kostüme: Thea Hoffmann-Axthelm, Musik: Robert Hartmann (Prinzip Gonzo), Dramaturgie: Michael Isenberg.
Mit: Philipp Auer, Nélida Martinez, Emilia Rupperti, Clara Schulze-Wegener, Anton Widauer.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.volkstheater.at

www.maxreinhardtseminar.at

 

Zum Gespräch mit Holle Münster über ihre Nachinszenierung

 

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