Nah an der Gegenwart

von Jan Creutzenberg

April 2018. Theater kann wie ein Brennglas wirken. Im Januar 2017 steht mitten in Seoul, zwischen Admiralsstatue, Pressehäusern und Finanztürmen, ein schwarzes Zelt. Hier, vor dem Gwanghwamun, dem Tor zum Königspalast, unweit vom Regierungssitz der Präsidentin, wird Theater gespielt. Die verschiedenen Ensembles, die im wöchentlichen Wechsel auftreten, verbindet der Protest gegen die Blacklist, eine Liste mit tausenden regierungskritischen Künstlern aller Sparten, die systematisch von öffentlicher Förderung ausgeschlossen wurden – eine Tatsache, die erst durch eine geleakte E-Mail bekannt wurde.

An diesem Januartag steht ein Stück auf dem Spielplan, das bereits etwas älter ist: In "Ssitgeum" (Ensemble Georipae, 2010) werden Elemente eines traditionellen koreanischen Säuberungsrituals in einen fiktiven Rahmen gestellt. Dicht gedrängt im von Heizlüftern gewärmten Zelt sehen wir auf der kleinen Bühne eine alte Frau. Gerade hat sie noch mit den Zuschauern in der ersten Reihe gescherzt, als sie plötzlich von einem Felsen zu Tode stürzt. Die anschließende Zeremonie, der Hauptteil des Stückes, geht nach dem Schlussapplaus nahtlos in eine Prozession über, führt aus dem Zelt hinaus und an dem benachbarten Protestcamp vorbei, wo Angehörige und Aktivisten seit Jahren der Opfer der Sewol-Katastrophe von 2014 gedenken. Dass in der Kälte des Ozeans mehrere hundert Menschen ertranken, während Rettungsschiffe hilflos vor der Küste kreuzten und die Präsidentin stundenlang nicht auffindbar war, ist immer noch schwer zu begreifen. Das Publikum zieht vorüber an den Bildern der verstorbenen Schüler und Schülerinnen und verläuft sich kurz darauf. Doch für einen gewichtigen Moment ist Theater zu einem Ort kollektiven Gedenkens geworden. Wenig später, im März 2017, muss die Präsidentin zurücktreten.

Ekstatische Gesangstechnik, epische Erzählungen

Theater und seine Macher finden sich aber mitunter auch selbst im Fokus wieder. Ein Jahr später, am 19. Februar 2018, steht Lee Yun-taek, Regisseur der "Ssitgeum"-Aufführung, im Blitzlichtfeuer auf der Bühne seines Theaters, allein. Zahlreiche ehemalige Mitglieder seines Ensembles Georipae werfen ihm sexuelle Belästigung vor, bis hin zu Vergewaltigungen und erzwungener Abtreibung. Der selbsternannte "Theater-Guerillero" hat während der Proben seiner gesellschaftskritischen Stücke offenbar seine allumfassende Macht, gestützt von der kollektiven Arbeitsweise, für die das Ensemble bekannt ist, jahrzehntelang systematisch ausgenutzt. Auch die Pressekonferenz, in der Lee Yun-taek die schwersten Vorwürfe abstreitet, scheint bis in die Details – betretene Stimme, gesenkter Kopf – inszeniert zu sein. Unter dem #Metoo-Hashtag werden bald weitere Vorwürfe öffentlich. Neben Lee betreffen diese auch den international erfolgreichen Autor und Regisseur Oh Tae-suk und andere prominente Theatermacher. Die polizeilichen Ermittlungen dauern an.

KoreaMaskendrama 1 700Lebendige Vergangenheit: Szene mit Löwentreiber und Löwe, Maskendrama aus der Region Eunyul (heute Nordkorea), Daehan Mask Dance Drama Festival, Seoul 2010 © CedarBough T. Saeji

Weder vor, auf noch hinter der Bühne ging es in Korea je harmlos zu. Dabei fand Theater hier bis vor gut hundert Jahren vor allem umsonst und draußen statt. "Richtiges Theater scheint in Korea nicht zu existieren", hielt darum 1882 der amerikanische Pfarrer und Weltreisende William Elliott Griffis in seinem Buch über die "Einsiedler-Nation Corea" fest. Zwar wird auf der koreanischen Halbinsel – wie im Rest der Welt – seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden, getanzt, gesungen, gespielt, rezitiert und musiziert. Doch fanden diese Aufführungen meist im Rahmen gemeinschaftlicher Dorfrituale statt, als Kontrapunkt zu den herrschenden Hierarchien. Hinter Masken oder mit Handpuppen ließen sich die Geldgier der Oberschicht oder die durchaus weltlichen Gelüste buddhistischer Mönche ohne Angst vor Konsequenzen verspotten.

Anders als diese Amateurgenres boten fahrende Ensembles professionelle Unterhaltung, indem sie Musik mit Akrobatik und satirischen Erzählungen verbanden. Pansori-Sänger, ursprünglich wohl Teil dieser Gruppen, konnten sich mit ihrer ekstatischen Gesangstechnik und epischen Erzählungen relativ früh als professionelle Solokünstler zu Trommelbegleitung etablieren und traten im 19. Jahrhundert sowohl in Dörfern als auch am Königshof oder in den Privathäusern reicher Mäzene auf. Ihre noch heute existierenden Geschichten zeigen deutlich die dabei nötige Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Zuhörerwünsche – von moralbedingten Plotvariationen hin zu zusätzlichen Liedern oder gelehrten Zitaten.

Mit Perücke und angeklebten Bärten

Spricht man in Korea jedoch von "Theater" (yeongeuk), so ist meist das von westlichen Einflüssen geprägte Sprechtheater gemeint: Schauspieler in Kostümen, die auf einer Bühne in verschiedene Rollen schlüpfen und miteinander interagieren. Aus dieser Perspektive ist die "koreanische Theatergeschichte" vergleichsweise kurz. Als ihr Beginn wird üblicherweise die Eröffnung des ersten geschlossenen Theaterbaus im Jahre 1902 gewählt, das zwar auf Befehl des Königs nach westlichem Vorbild gebaut wurde, aber zunächst vor allem als Spielstätte für traditionelle Künstler diente: nostalgisch angehauchte Revue-Programme, denen "selbst Frauen", so der Zeitzeuge Horace N. Allen, in einem separaten Sitzbereich beiwohnen konnten. Schon bald entdeckten jedoch progressive Theatermacher Dramen als Mittel der Volkserziehung und Sozialkritik. Das Stück Silberwelt über einen korrupten Provinzgouverneur, von Yi Injik 1908 im Wongaksa mit traditionellen Pansori-Sängern einstudiert, stellte stilistisch eine Hybridform zwischen traditionellem Erzählgesang (Pansori) und modernem Problemstück dar, die sich im weiteren zum heute als "traditionelle Koreanische Oper" bekannten Changgeuk ("Singdrama”) weiterentwickelte.

KoreaPansoriDarstellung einer Pansori-Aufführung in Pyongyang, 19. Jahrhundert, Detail eines Wandschirms, heute in der Sammlung der Seoul National University © Public Domain

Während Changgeuk bald als altmodisch angesehen wurde, setzte die aufkeimende Theateravantgarde auf realistisches Sprechtheater, das Singeuk ("neues Drama"), das von Austauschstudenten aus Japan "importiert" wurde. Dabei erfreuten sich zunächst relativ zeitgenössische europäische Werke besonderer Beliebtheit, etwa Dramen von Anton Tschechow, George Bernard Shaw und Henrik Ibsen. William Shakespeare wurde in intellektuellen Debatten des frühen 20. Jahrhunderts bereits gern zitiert, zumeist nach japanischen oder chinesischen Übersetzungen. Doch bis zu den ersten professionellen Aufführungen dauerte es bis nach Ende des 2. Weltkrieges. Im Universitätstheater, das bis heute Impulse in der Rezeption zeitgenössischer Dramatik gibt in der Rezeption zeitgenössischer Dramatik gibt, spielte Shakespeare hingegen schon früh eine wichtige Rolle. Die erste dokumentierte Aufführung, eine Szene aus "Julius Caesar", fand 1925 an der Gyeongseong Wirtschaftsoberschule in Seoul statt – im englischen Original.

War das am Realismus orientierte Singeuk in der Kolonialzeit (1910–45) noch Avantgarde, wurde es nach dem Koreakrieg (1950–53) im südlichen Teil der Halbinsel bald zum Mainstream. Am neugegründeten Nationaltheater gaben Schauspieler mit Perücke und angeklebten Bärten westliche Klassiker neben spektakulärem Changgeuk. In Nordkorea dagegen führt das Theater, abgesehen von staatstreuen "Revolutionsopern" mit Titeln wie Ein Meer von Blut (1971) oder Erzähle Du Wald (1972) sowie den jährlich veranstalteten "Arirang"-Massenfestspielen, bis heute ein Schattendasein.

In den Jahrzehnten nach dem Staatsstreich 1961 entwickelte sich Südkorea unter Park Chung-hees autoritärer Herrschaft von einem Drittweltstaat zu einer Wirtschaftsmacht. Zeitgleich war Theater an staatlichen Bühnen weitestgehend unpolitisch. Staatliche Zensur in Form einer von Anti-Kommunismus geprägten "Ethik-Kommission" erschwerte es auch kleineren Theatern, kritische Stücke zu bringen. Zwar wurden Brechts Theorien an den Universitäten durchaus diskutiert und inspirierten Dramatiker, doch bis Ende der 80er-Jahre blieben seine Stücke auf öffentlichen Bühnen Südkoreas unspielbar.

Die langen Schatten der Vergangenheit

Die nationalistisch orientierte Politik unter Park erfasste auch das traditionelle Erbe Koreas. Anerkannte Meister, die ihre Kenntnisse in Pansori, Maskentanz oder Puppenspiel an die nächste Generation weiterreichten, wurden per Gesetz zu "lebenden Kulturgütern" ernannt. Der Bewahrung von archivierten Archetypen verpflichtet, finden ihre Aktivitäten bis heute vor allem in einer Nische statt, von der die Allgemeinheit außer an Feiertagen wenig mitbekommt. Gleichzeitig entdeckte eine junge Generation von Theatermachern, zum Teil inspiriert von anti-realistischen Tendenzen in Europa und den USA, die Möglichkeiten, traditionelle Aufführungskünste für neues, explizit "koreanisches" Theater zu nutzen.

Neben konservativer Kulturpolitik und avantgardistischen Experimenten fanden traditionelle Theaterformen auch Eingang in die Protestbewegung der 70er- und 80er Jahre. Bei Demonstrationen und Sit-ins griffen regierungskritische Künstler auf die satirische Theatertradition und gemeinschaftsstiftende Rituale zurück und trugen so zur langsamen Umverteilung der Macht bei. Die Demokratisierung brachte auch dem Theater bisher ungeahnte Freiheiten. Im Gefolge der Olympischen Spiele 1988 in Seoul wurde die "Dreigroschenoper" gezeigt – nicht nur die erste offiziell genehmigte Brecht-Aufführung, sondern auch ein Zeichen, dass die Ära antikommunistisch-autoritärer Herrschaft ihrem Ende zuging.

Heute ist die südkoreanische Theaterlandschaft so vielfältig wie noch nie. Das betrifft nicht nur die zahlreichen staatlichen wie kommerziellen Spielstätten, sondern auch Genres und Methodik. Jenseits des Spannungsfeldes von Kunst und Kommerz, von psychologisch-realistischen, für ein westliches Publikum nicht selten übertrieben pathetisch wirkenden Klassiker-Inszenierungen, starbesetzten Musicals oder dem gelegentlich überraschend experimentellen neo-traditionalistischen Changgeuk, sind die langen Schatten der Vergangenheit beständiges Thema kritischer Theatermacher. Park Geun-hye, Tochter des Militärdiktators Park Chung-hee, die 2013 mit knapper Mehrheit zur Präsidentin gewählt wurde, ist nur eine*r dieser Wiedergänger*innen. Hierarchien zwischen den Generationen und Geschlechtern, die wenig überzeugend mit konfuzianistischen Traditionen erklärt werden, provozieren ihre Dekonstruktion. Das Gefälle zwischen Arm und Reich, ein Erbe des Wirtschaftswunders, erleben weniger privilegierte Theatermacher oft am eigenen Leib.

Präzise Kritik der Geschlechterverhältnisse

Die drei Stücke, die 2018 beim Heidelberger Stückemarkt im internationalen Autorenwettbewerb antreten, nehmen die gegenwärtige Macht politischer wie kultureller Traditionen auf unterschiedliche Weise aufs Korn. Jae-Yeop Kim etwa rollt in seiner "Chronik der Alibis" (2013) die Verstrickungen seines Vaters in die moderne koreanische Geschichte mittels eines Alter Egos auf, das sozusagen durch die Zeit reist und Familienmitglieder nach ihren Motiven befragt. "Der gelbe Umschlag" von Lee Yang-gu (2014) beginnt als Polit-Stück über einen gescheiterten Streik, deren Ziele jedoch vollends in Frage gestellt werden, als aus heiterem Himmel Nachrichten vom Untergang der Sewol-Fähre in die zynische Welt des Arbeitskampfes eindringen. Yeon-ok Koh hat ihre Mythenadaption "Das Gespür einer Ehefrau" (2017) zwar bereits vor der jüngsten #Metoo-Debatte verfasst. Mit der zwischen archaischen und zeitgenössischen Rollenbildern schwankenden Geschichte über die Ehefrau eines Bären, die von einem Angestellten in die Arme der Zivilisation gerettet wird, gelingt ihr jedoch eine präzise Kritik der gewachsenen Geschlechterverhältnisse im heutigen Südkorea.

Korea blacktent 700 uSzene aus einer Aufführung des Stückes “Der gelbe Umschlag” (Autor: Yanggu Yi, Regie: Jeon In-cheol, Ensemble Dolpagu) im “Black Tent”, Seoul, 14. Feb. 2017 © Plaza Theatre Black Tent

Die nach Heidelberg eingeladenen Gastspiele verwenden ungewöhnliche Inszenierungsideen, um die koreanische Gesellschaft auf die Bühne zu bringen: am Rande der Erschöpfung, innerlich gespalten, kurz vor der Katastrophe. Die Schauspieler des Ensembles Creative VaQi, in dokumenarischem Theater geübt (The Conversations, 2014), reflektieren in "Before After" (Regie: Kyungsung Lee, 2015) über persönliche Krisen. Hyuntak Kim lässt Arthur Millers Handlungsreisenden auf dem Laufband in den Tod rennen ("Death of a Mans Sale", 2011). Und in der Shakespeare-Adaption der Yohangza Theatre Company (Regie: Jung-Ung Yang, 2014) tragen Romeo und Julia, anders als in vielen international gefeierten "interkulturellen" Shakespeare-Aufführungen aus Korea, keine traditionelle Kleidung, sondern Trainingshose und Kopfhörer.

Spiel und Leben, Fakt und Fiktion

Im Korea der Gegenwart weisen auch andere Stücke auf tote Winkel im kollektiven Bewusstsein hin. Lee Yeo-Jins Satire Toilet People (2016) über den Umgang mit Geflohenen aus dem Norden – ein im Vergleich mit der atomaren Bedrohung weitaus drängenderes Problem – ist auf Basis von Recherchen und Interviews entstanden, die der Autorin deutlich machten, dass nicht alle Integrationshelfer hehre Absichten verfolgen. In den Versuchen der "Neu-Bürger" (so eine gängige Bezeichnung für Geflohene aus dem Norden), sich an die kapitalistische Arbeitswelt im Süden anzupassen, erkennt die Autorin zudem eine Parallele zu der Zukunftsangst ihrer eigenen Generation.

Korealehrstuck250 Szene aus “Das Badener Lehrstück vom Einverständnis” (nach Brecht, Regie: Hyoungjin Im) © Yoon-jeong ChoiAuch Brecht erlebt nach einer kurzen Müdigkeitsphase ein kleines Comeback: Die freien Pansori-Adaptionen von Lee Jaram ("Lied von Sichuan", 2007; "Lied von der Courage", 2011, Regie: Nam Inu) erfreuen sich internationaler Erfolge. Das von Im Hyoungjin geleitete Ensemble "Theaterraum: Der philosophierende Körper" kontrastiert in einer Adaption des "Badener Lehrstücks vom Einverständnis" (2016) und der ansonsten häufig in den Koreakrieg transferierten "Mutter Courage" (2017) Technologie- und Kapitalismuskritik aus dem letzten Jahrhundert mit den prekären Lebensumständen der heutigen Schauspieler.

Anfangs vor allem von Impulsen aus dem Ausland geleitet, verwischen im zeitgenössischen südkoreanischen Theater die Grenzen zwischen Tradition und Moderne, verschiedenen Sprachen und nationalen Identitäten bisweilen zur Unkenntlichkeit. Neben Gastregisseuren, zum Beispiel aus Deutschland – etwa Achim Freyer (Mr. Rabbit and the Dragon King, 2011), David Bösch (Urfaust, 2011) und Alexis Bug (zuletzt "The Power", 2015) – sind internationale Kollaborationen mittlerweile ebenfalls keine Seltenheit mehr. So lassen sich in Walls – Iphigenia in Exile (2016) koreanische und deutsche Regisseure und Schauspieler von Goethes Klassiker zu neuen Perspektiven auf Flucht, Vertreibung und geteilte Leben inspirieren. Das koreanische Ensemble Taroo wiederum nimmt gemeinsam mit dem britischen Künstlerkollektiv Blooming Ludus das Pansori-Stück "Heungbo-ga" – eine märchenhafte Parabel über einen armen und einen reichen Bruder – zum Anlass, spielerisch die Wohnungsnot in Seoul zu simulieren (Hier lebe ich, 2016).

Was genau (süd-)koreanisches Theater ist – eine Frage, die Dramatiker, Regisseure und Kritiker ein Jahrhundert lang beschäftigte –, weicht auf der Bühne einer umfassenderen Erkundung der Grenzen von Spiel und Leben, Fakt und Fiktion. Und damit ist das Theater in Korea, wie in den Zeiten, als es noch nicht Theater hieß, wieder ganz nah an der Gegenwart.

 

PortraitJanCreutzenberg1Jan Creutzenberg lebt seit 2010 in Korea, wo er als Assistant Professor an der Ewha Womans University deutsche Sprache und Kultur unterrichtet. Er hat eine Doktorarbeit über das koreanische Erzähltheater Pansori verfasst, drei koreanische Theaterstücke für den Heidelberger Stückemarkt 2018 übersetzt und schreibt über Theater, Kunst und Musik auf dem Blog seoulstages.wordpress.com.

 

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